Immer wieder müssen sich Fussballer vor Gericht verantworten. Oft geht es in Anschuldigungen um sexualisierte und häusliche Gewalt gegen Frauen. Die Vereine als Arbeitgeber reagieren noch häufig nach der Prämisse: "Wird sich schon alles klären". Aber gäbe es nicht einen besseren Weg, mit derartigen Situationen umzugehen?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Sabrina Schäfer sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Anscheinend gibt es zwei Jerome Boateng. Den einen auf dem Platz, den Fussballer, den grossen Verteidiger, den Weltmeister.

Und den anderen: Den vor Gericht, der seine Lebensgefährtin verletzt haben soll, wenn man nach den Urteilen zweier Gerichte geht. Boateng ist dagegen in Revision gegangen, deshalb gilt er als unschuldig.

Auf den Fussballer hatte der Boateng vor Gericht bislang keinen Einfluss. Boateng hat zwar den FC Bayern verlassen, doch das hatte sportliche Gründe. Inzwischen spielt er bei Olympique Lyon in Frankreich. Dass er potenziell gewalttätig gegenüber Frauen gehandelt haben könnte, scheint den französischen Verein nicht zu berühren.

Boateng ist der in Deutschland wohl prominenteste Fussballer, dessen Fall vor Gericht aufgearbeitet wurde. Der einzige ist er nicht.

  • Einem nicht namentlich genannten "Star" aus der Premier League wird Vergewaltigung vorgeworfen. Laut "The Athletic" spielt er dennoch jedes Wochenende vor vollen Stadien und wird bejubelt.
  • Stuttgart-Profi Atakan Karazor sass 165 Tage in Ibiza in U-Haft, inzwischen ist er frei. Das Verfahren ist schwebend. Der VfB Stuttgart stellt sich schützend vor seinen Spieler. Als er wieder ins Mannschaftstraining einstieg, zeigten sich die Verantwortlichen erfreut über seinen guten Fitnesszustand.
  • Bayern-Star Kingsley Coman hatte 2017 seine Ex-Freundin geschlagen und bedroht. Er plädierte im Prozess auf schuldig und zahlte eine Geldstrafe von 5.000 Euro. Der FC Bayern liess damals auf "Sport1"-Nachfrage verlauten, es handle sich dabei um Comans Privatsache.
  • Aktuell hat die Staatsanwaltschaft in Paris Anklage gegen Achraf Hakimi erhoben. Er soll eine Frau vergewaltigt haben. Sein Verein Paris Saint-Germain stärkt dem Marokkaner den Rücken, er stand auch gegen die Bayern auf dem Platz. Die offizielle Marschrichtung: "Der Klub unterstützt den Spieler, der die Anschuldigungen entschieden zurückgewiesen hat und der Justiz vertraut. PSG ist eine Institution, die Respekt auf dem Rasen und ausserhalb dessen verspricht."

Vereine reagieren kaum auf Vorwürfe

Immer wieder werden Fussballer straffällig oder stehen zumindest im Verdacht, straffällig geworden zu sein. Oft geht es um häusliche oder sexualisierte Gewalt gegen Frauen. Auf die Karriere der Männer hat das selten einen Einfluss. Kein Karriere-Aus, nicht mal ein Karriereknick – solange die Leistung auf dem Platz stimmt.

In einer aufsehenerregenden Recherche der "Süddeutschen Zeitung" und "Correctiv" im Oktober 2022 zu häuslicher Gewalt gegen Spielerfrauen hatte eine ehemalige Spielerfrau erklärt, warum dem wohl so ist: "Die Fussball-Profis sind eine sehr wertvolle Ware für Vereine, Manager und Berater." Und dieser "Ware" soll möglichst der Rücken freigehalten werden, damit sie die beste Leistung bringen kann.

Opferanwältin: Es wird sehr stark zwischen Privatem und Beruflichem getrennt

Und noch ein zweiter Aspekt spielt vermutlich im Verhalten der Vereine eine wichtige Rolle, glaubt Opferanwältin Isabel Kratzer-Ceylan. "Die Entscheidungsträger, die hier Konsequenzen setzen könnten, trennen offenbar sehr stark zwischen Privatem und Beruflichem: 'Es ist mir egal, was der privat macht, Hauptsache er spielt gut und ich verdiene gut Geld mit ihm.'" Eine Beobachtung, die die Opferanwältin auch bei anderen Institutionen wie Universitäten, Justiz oder Kirchen macht. "Das sind alles Institutionen, die die eigenen 'Mitglieder' schützen", erklärt sie im Gespräch mit unserer Redaktion. Zu den – oft männlichen – Entscheidungsträgern sei es teilweise noch nicht durchgedrungen, dass man Taten wie sexualisierte oder häusliche Gewalt verurteilen muss. "Die gehen oftmals lieber den leichten Weg", sagt Kratzer-Ceylan.

Der oftmals entscheidende Vorteil: Geld

Natürlich muss auch für Fussballer die Unschuldsvermutung gelten. Sie dürfen genauso wenig wie alle anderen Menschen vorverurteilt werden. Sie haben das Recht auf einen fairen Prozess – ein Punkt, den beispielsweise Boatengs Verteidigung im Prozess im Oktober anprangerte: Ihr Mandant sei bereits durch die Berichterstattung vorverurteilt.

Fussballer dürfen sich wie alle anderen Menschen vor Gericht beziehungsweise gegen Verdächtigungen verteidigen. Und sie haben dabei einen ganz entscheidenden Vorteil: Geld.

"Das Gericht soll die Wahrheit erforschen und am Ende soll die Gerechtigkeit siegen, sage ich jetzt mal plakativ", erklärt Kratzer-Ceyla. Die Wahrheitsfindung hänge im Strafprozess in Deutschland jedoch sehr von den finanziellen Mitteln ab und wer da verteidige. "Je besser der Verteidiger ist, desto höher sind die Chancen, dass das Verfahren am Ende nicht zu einer Verurteilung gelangt. Oder dass es zu einer Einstellung kommt."

Unterschied zwischen Freispruch und Einstellung eines Verfahrens: Wird ein Angeklagter oder eine Angeklagte freigesprochen, kann später nicht mehr wegen der gleichen Tat oder des gleichen Strafbestands gegen ihn oder sie ermittelt werden. Wird ein Verfahren jedoch nach Paragraf 170 Absatz 2 Strafprozessordnung eingestellt, kann neu gegen den Angeklagten oder die Angeklagte ermittelt und bei neuer Beweislage auch Anklage erhoben werden. Ein Verfahren wird häufig dann eingestellt, wenn die Staatsanwaltschaft eine Verurteilung für nicht wahrscheinlich erachtet, weil beispielsweise die Beweislage nicht genügend ist. Über die Schuld oder Unschuld eines Angeklagten sagt eine Einstellung demnach nichts aus.

Standing des Täters spielt grosse Rolle

Für Opfer von sexualisierter Gewalt ist die Macht solcher gerichtlichen Entscheidungen in ihrer öffentlichen Wahrnehmung nicht zu unterschätzen. Noch immer wird nur ein Bruchteil aller Gewalttaten zur Anzeige gebracht. Laut der Opferhilfe "Weisser Ring" ist bei häuslicher Gewalt von einer Dunkelziffer von 80 Prozent auszugehen. Auch bei sexualisierter Gewalt wird nur ein Bruchteil der Taten zur Anzeige gebracht.

Wer der Täter ist und welches Standing er in der Gesellschaft hat, spielt in der Entscheidung für oder gegen eine Anzeige eine grosse Rolle, erklärt Opferanwältin Kratzer-Ceylan.

"Die Angst, die mit einer Strafanzeige verbunden ist, wird auf jeden Fall verstärkt, wenn der Täter ein gutes Standing in der Gesellschaft hat. Fussballer, Ärzte, Prominente – immer, wenn wir jemanden haben, der einen Beruf ausübt, der angesehen ist, der eine gute Reputation hat, dann ist es für das Opfer umso schwieriger, diese Hemmschwelle zu überwinden."

Opfer haben Angst

Oftmals hätten Opfer Angst, selbst rechtliche Probleme zu bekommen oder vom Täter mit einer Gegenklage überzogen zu werden. Laut "Correctiv" und "Süddeutscher Zeitung" werden Frauen, die eine Beziehung mit Fussballern führen, häufig gezwungen, Verschwiegenheitserklärungen zu unterzeichnen. Kommt es in diesen Beziehungen zu Gewalt, schweigen die Frauen aus Angst vor hohen Vertragsstrafen, sind eingeschüchtert.

"Eine sehr grosse Rolle spielt auch immer die Angst, 'mir wird eh nicht geglaubt'", sagt Kratzer-Ceylan. Wenn sich der Verein als Arbeitgeber eines verdächtigten oder bereits verurteilten Fussballers öffentlichkeitswirksam hinter diesen stellt, dürfte das die Angst bei den Opfern in manchen Fällen noch vergrössern: "Wenn mir schon der Verein und die Öffentlichkeit nicht glauben, wie wird es dann vor Gericht ausgehen?"

Mythos Falschbeschuldigung

Hartnäckig hält sich häufig der Mythos der Falschbeschuldigung: Dieser Reflex, bei einer Anschuldigung gegen einen bekannten oder zumindest geschätzten Mann erst einmal zu hinterfragen, ob nicht doch etwas anderes dahinterstecken könnte. Eine wütende Ex-Freundin, eine Erpressung, ein Schrei nach Aufmerksamkeit. Auch die Anwältin von Achraf Hakimi vermutet im Vergewaltigungsvorwurf öffentlichkeitswirksam einen Erpressungsversuch. Verschiedene Studien haben inzwischen herausgefunden, dass der Anteil von Falschbeschuldigungen im Bereich sexualisierter Gewalt minimal ist. Laut Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe liegt er bei angezeigten Vergewaltigungen in Deutschland bei circa drei Prozent.

Und natürlich: Wenn eine Falschbeschuldigung passiert, ist das schrecklich für den zu Unrecht Beschuldigten und es ist zwingend notwendig, sie aufzudecken und zu verfolgen.

Privatsache – wenn es gerade passt

Für die Vereine und das weitere Umfeld beschuldigter Fussballprofis ist die Falschbeschuldigung ein angenehmes Narrativ, um sich mit Konsequenzen zurückhalten zu können. Tatsächlich ist es immer noch die Ausnahme, dass deutsche Vereine bei schwerwiegenden Verdachtsfällen mit Suspendierungen oder gar Kündigungen reagieren.

Der Umgang mit dem Privatleben der Spieler gerät dabei bei manchen Vereinen schon fast schizophren. Während beim FC Bayern beispielsweise ausführlich über Serge Gnabrys Besuch der Fashion Week in Paris in dessen Freizeit diskutiert wird, wird der Fakt, dass Verteidiger Lucas Hernandez wegen Verstosses gegen ein Kontaktverbot, das nach häuslicher Gewalt ausgesprochen wurde, fast ins Gefängnis musste, als Kuriosum abgetan. Immerhin ist er ja mittlerweile mit der Frau verheiratet.

Was macht das mit weiblichen Fans?

Die Gefühle weiblicher Fans oder anderer Frauen im Fussball dürften bei den Überlegungen der Vereine bei Verdachts- oder Straffällen kaum eine Rolle spielen. Dabei wird in Deutschland laut Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend jede dritte Frau zumindest einmal in ihrem Leben Opfer physischer und/oder sexualisierter Gewalt.

Und diese Gewalt passiert auch in den deutschen Stadien. Immer wieder berichten Frauen in den sozialen Netzwerken von Übergriffen, von Händen, die ungefragt auf Körperteilen landen, auf denen sie nichts verloren haben.

Wenn es die Vereine nicht schaffen, sich deutlich zum Schutz von Frauen zu positionieren, dürfte es auch auf den Rängen schwierig werden.

Immerhin gehen einzelne Vereine inzwischen voran. So hat sich beispielsweise Bayer 04 Leverkusen dem "Luisa"-Projekt angeschlossen, sodass betroffene Frauen mithilfe des Codeworts "Luisa" Hilfe holen können. Mit "Kennst du Mika?" gibt es auch bei Werder Bremen ein ähnliches Projekt.

Wie kann der Umgang besser gelingen?

In England zeigt seit mehr als einem Jahr Manchester United, wie ein Umgang mit einem Spieler, der sich schweren Verdachtsmomenten ausgesetzt sieht, auch aussehen kann – und zwar im Fall von Mason Greenwood. Es ging um versuchte Vergewaltigung, Körperverletzung sowie Erpressung. Eine Audioaufnahme der angeblichen Tat ging durch die Medien. Manchester United stellte Greenwood daraufhin frei, er hat seit den Anschuldigungen kein Spiel für die Engländer absolviert.

Inzwischen hat die britische Strafverfolgungsbehörde die Anklage gegen Greenwood in allen Punkten fallen gelassen. Da sich unter anderem wichtige Zeugen zurückgezogen hätten, gebe es aktuell keine Aussicht auf eine Verurteilung. Greenwood ist also nicht freigesprochen, ein freier Mann ist er aber doch.

Auch im deutschen Rechtssystem ist eine Strafverfolgung von Taten in einem sexualisierten Kontext häufig schwierig. Es steht Wort gegen Wort. "Wir haben selten den 'Idealfall', dass akut nach der Tat die Polizei gerufen wird und Spuren gesichert werden. Bei Sexualstraftaten haben wir fast immer das Problem, dass Strafanzeige erst später erstattet wird. Manchmal erst Monate oder Jahre später. Dann kann man keine Beweise mehr am Körper sichern. Stattdessen ist dann die Aussage das Wichtigste", erklärt auch die Opferanwältin. Und das erschwert eine Strafverfolgung und Verurteilung.

Rehabilitiert Manchester United Mason Greenwood?

Aktuell überlegt Manchester United offenbar, ob es für Greenwood einen Weg zurück in den Verein gibt. Wie "The Athletic" berichtet, soll ManUtd über einen mehrphasigen Prozess nachdenken, der auch die Meinung und Gefühlslage von Fangruppierungen, Sponsoren und Uniteds Frauenteam mit einbezieht. Zudem könnte Greenwood zu einer Therapie ermutigt werden, bevor er im Verein rehabilitiert wird.

Unmittelbar und transparent reagieren, den Spieler auch zum Selbstschutz aus der Schusslinie nehmen, Entwicklungen abwarten und dann verschiedene und vor allem auch weibliche Perspektiven in eine mögliche Entscheidung und weiteres Vorgehen miteinbeziehen – man wird sehen, ob Manchester United am Ende tatsächlich so vorgeht und dieser Prozess dann Schule macht. Oder ob Vereine einfach weiterhin nach dem einen Motto agieren: Da mischen wir uns lieber nicht ein.

Über die Expertin: Dr. Isabel Kratzer-Ceylan ist als Opferanwältin tätig. Vor ihrer Kanzleitätigkeit war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Augsburg tätig und befasste sich in ihrer Doktorarbeit ausführlich mit dem Thema der sexualisierten Gewalt. Zudem ist sie Traumaberaterin.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Opferanwältin Dr. Isabel Kratzer-Ceylan
  • br.de: Boateng-Prozess: Fussballer bestreitet "strafbares Tun"
  • theathletic.com: The Premier League player accused of rape - and football's struggle to respond
  • sport1.de: Coman: Bayern hält sich bedeckt
  • correctiv.org: Draussen Held, drinnen Gewalt
  • sueddeutsche.de: Mit voller Wucht (Bezahlinhalt)
  • sportbild.bild.de: PSG-Star Hakimi reiste trotz Vergewaltigungs-Anklage nach München
  • theathletic.com: Mason Greenwood and his Manchester United future: The state of play
  • 90min.de: Wie geht es mit Mason Greenwood bei Man United weiter
  • Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Formen der Gewalt erkennen
  • frauen-gegen-gewalt.de: Kampagne "Vergewaltigung Verurteilen"
  • dw.com: Sexualisierte Gewalt im Stadion: Bayer 04 Leverkusen geht mit "Luisa" neuen Weg
  • werder.de: Awarenesskonzept MIKA

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