Keine Rudelbildungen und keine Schwalben, keine Theatralik und kein Jammern, kein Bestürmen der Schiedsrichterin und kein Fordern von Karten für die Gegnerin: Die Frauen-WM hob sich in puncto Fairness wohltuend von manchem Wettstreit der Männer ab. Entgegen anderslautenden Urteilen wirkte sich auch der Einsatz der Video-Assistenten positiv aus.

Alex Feuerherdt, Schiedsrichter
Eine Kolumne
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Aus Schiedsrichtersicht war das Finale der Fussball-Weltmeisterschaft der Frauen zwischen den USA und den Niederlanden (2:0) ein Spiegelbild des gesamten Turniers: Es gab keine bösen Fouls und keine Mätzchen, beide Teams akzeptierten die Entscheidungen der Unparteiischen vollauf - und es war ein Eingriff des Video-Assistenten (VAR), der den Ausgang des Spiels massgeblich beeinflusste.

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Als die Niederländerin Stefanie van der Gragt nach einer Stunde bei einem Rettungsversuch im eigenen Strafraum den Ball verfehlte und stattdessen mit ihrem Fuss den Oberarm von Alex Morgan traf, reagierte die französische Schiedsrichterin Stéphanie Frappart zunächst nicht. Die Partie lief weiter.

In der nächsten Unterbrechung jedoch empfahl der VAR der Spielleiterin ein On-Field-Review. Am Monitor sah Frappart schliesslich das Foulspiel von van der Gragt und entschied berechtigterweise auf Strafstoss für die USA. Megan Rapinoe verwandelte den Elfmeter gegen die starke niederländische Torhüterin Sari van Veenendaal, damit war der Widerstand der Aussenseiterinnen gebrochen.

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Nennenswerte Proteste der niederländischen Spielerinnen gab es gleichwohl nicht. Überhaupt hob sich das Turnier in Frankreich in Bezug auf die Fairness und den Umgang mit den Referees positiv von so manchem Wettstreit der Männer ab. Man sah keine Rudelbildungen und keine Schwalben, keine Theatralik und kein Jammern, es wurden keine Schiedsrichterinnen bestürmt und keine Karten für die Gegnerin gefordert.

Nur eine Rote Karte im gesamten Turnier

Eine Ausnahme bildete die Achtelfinal-Begegnung zwischen England und Kamerun, in der sich die Kamerunerinnen - zu Unrecht - von der Unparteiischen Liang Qin benachteiligt fühlten und mehrmals damit drohten, das Feld zu verlassen.

Sonst dominierte das Fair Play, selbst strittige Entscheidungen wurden ohne die bei den Männern üblichen Proteststürme gegen die Referees hingenommen.

Im Turnierverlauf gab es insgesamt 124 Gelbe Karten, das entspricht bei 52 Spielen einem Schnitt von knapp 2,4 pro Partie. Neben drei Gelb-Roten Karten gab es lediglich eine einzige glatt Rote Karte, sie traf die Australierin Alanna Kennedy wegen einer "Notbremse" im Achtelfinalspiel gegen Norwegen, das die Skandinavierinnen im Elfmeterschiessen gewannen.

Dass nur wenige Karten gezeigt wurden, spricht auch für die Schiedsrichterinnen, deren Leistungen sich sehen lassen konnten. Die Unparteiischen fanden fast immer eine zum jeweiligen Spielcharakter passende Linie, waren konsequent in deren Umsetzung und sicher im Auftreten. Mit Stephánie Frappart, die kürzlich in der höchsten französischen Liga der Männer debütierte, hatte die WM eine würdige Finalschiedsrichterin.

Warum die Video-Assistenten so oft eingriffen

Dennoch gab es auch Kritik, namentlich an den häufigen Eingriffen der Video-Assistenten und an der Dauer von manchen ihrer Interventionen. Tatsächlich schalteten sich die VAR beim Turnier in Frankreich doppelt so oft ein wie im vergangenen Jahr bei der Weltmeisterschaft der Männer in Russland.

Das hatte allerdings seine Gründe. Der Fussball hat sich rasant entwickelt, er ist schneller, athletischer und professioneller geworden - auch und gerade bei den Frauen. Das fordert auch die Schiedsrichterinnen stärker. Vieles ist auf dem Feld in Echtzeit mittlerweile deutlich schwerer zu entscheiden als in vergangenen Jahren. Damit steigt die Gefahr von Fehlern.

Auch die eine oder andere noch ungewohnte Regelneuerung, etwa bei der Elfmeterausführung oder dem Handspiel, machte manchen Eingriff des Video-Assistenten erforderlich. Die vielen Unterbrechungen mochten bisweilen stören - doch wie laut wäre der Aufschrei gewesen, wenn spielentscheidende Fehler mangels VAR nicht hätten korrigiert werden können?

"Man kann nicht gleichzeitig akkurat und schnell sein"

Insgesamt haben die Video-Assistenten auch beim Turnier in Frankreich wesentlich zur Steigerung der Entscheidungsqualität der Unparteiischen beigetragen. Dass die On-Field-Reviews manchmal länger gedauert haben, hängt zum einen mit der fehlenden Praxiserfahrung der Schiedsrichterinnen zusammen. Fast keine Unparteiische war die Kooperation mit dem VAR gewohnt. Das war bei der Männer-WM 2018 anders.

Zum anderen waren die Überprüfungen in der Videozentrale in Paris bisweilen umfangreicher, als es auf den ersten Blick schien. So zum Beispiel im Achtelfinalspiel zwischen den Niederlanden und Japan: Beim Handelfmeter für die Niederländerinnen kurz vor Schluss musste nicht nur das Handspiel der Japanerin Saki Kumagai geprüft werden, das zum Pfiff geführt hatte.

Vielmehr stellte sich auch die Frage, ob beim vorangegangenen Angriff der Niederlande der Ball die Seitenlinie überschritten hatte. Weil das mit dem vorhandenen Bildmaterial nur schwer zu entscheiden war, zog sich der Check hin. "Man kann nicht gleichzeitig akkurat und schnell sein", sagte Pierluigi Collina, der Chef der Fifa-Schiedsrichter, auf einer Pressekonferenz.

Collina verteidigt strengere Elfmeterregel

Die neuerdings überraschend strenge Überwachung des Torwartverhaltens beim Elfmeter, die zu drei Wiederholungen von verschossenen Strafstössen, Gelben Karten für die Torhüterinnen und viel Kritik geführt hatte, verteidigte der frühere Weltklassereferee ausdrücklich.

Die Regelhüter seien den Schlussleuten mit der Regeländerung entgegengekommen, nach der sie bei der Ausführung des Strafstosses nur noch mit einem Fuss auf der Torlinie sein müssen, erklärte Collina. "Und die Regeln müssen eingehalten werden." Man könne es nicht beim Abseits zentimetergenau nehmen, aber beim Elfmeter nicht.

Das stiess zwar längst nicht überall auf Zustimmung, aber die Torhüterinnen gewöhnten sich rasch an die neue Regel und blieben fortan mit einem Fuss auf der Linie. Auch deshalb, weil die Schiedsrichterinnen sie vor jeder Elfmeterausführung noch einmal deutlich darauf hinwiesen. Ein sinnvolles und vorausschauendes Vorgehen.

Insgesamt können die Schiedsrichterinnen mit ihren Auftritten bei der WM zufrieden sein. Und die Männer könnten sich eine Scheibe abschneiden von der Fairness und Gelassenheit der Spielerinnen im Umgang mit den Gegnerinnen und den Unparteiischen.

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