Khalida Popal hat in Afghanistan die Hölle erlebt und doch vielen afghanischen Frauen Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben geschenkt. Popals Waffe ist der Fussball. Das Spiel, das sie seit ihrer frühesten Kindheit liebt und das ihr einerseits viel Freude, aber auch unermesslichen Schmerz gebracht hat.
Khalida Popal ist in Sicherheit, bereits seit 2011 lebt sie in Dänemark. In Afghanistan hatte sie Morddrohungen erhalten, entging einem Mordanschlag nur knapp. Zu diesem Zeitpunkt war Popal Finanzdirektorin des afghanischen Fussballverbands und hatte das von ihr entgegen aller Widrigkeiten mitbegründete afghanische Frauen-Nationalteam rund 20 Mal als Kapitänin aufs Feld geführt.

Damals sind die Taliban zwar nicht an der Macht, religiös-konservative Mächte bestimmen dennoch den Alltag in Afghanistan. Dass Frauen Fussball spielen, ist in ihrem Weltbild nicht vorgesehen. Und dass Popal immer wieder auch öffentlich über Korruption und Machtmissbrauch spricht, macht sie schliesslich zur Zielscheibe. Bereits im Exil deckt Popal zudem einen Missbrauchsskandal im afghanischen Fussballverband auf, woraufhin die Fifa den afghanischen Verbandspräsidenten Keramuddin Karim auf Lebenszeit sperrt. Weitere Konsequenzen hatte der Missbrauch für Karim jedoch nicht, er ist weiterhin auf freiem Fuss.
Als sich die westlichen Mächte 2021 aus Afghanistan zurückziehen, hilft Popal, die Nationalspielerin ausser Landes und in Sicherheit zu bringen. Unter den Taliban ist Frauen das Fussballspielen verboten. Inzwischen spielen die meisten Nationalspielerinnen in Australien.
Noch immer kämpft Popal dafür, dass die Fifa das afghanische Frauen-Nationalteam endlich offiziell anerkennt und vor allem dafür, dass die Frauen Afghanistans nicht vergessen werden. Ihre Erlebnisse hat sie in dem Buch "Meine wundervollen Schwestern" aufgeschrieben. Sie erhält bis heute Morddrohungen.
Die Welt ist im Aufruhr. Was gibt Ihnen aktuell Hoffnung?
Khaldia Popal: Ich denke, unsere Arbeit als Interessenvertretung und wenn ich sehe, wie unsere Spielerinnen, afghanische Athletinnen und andere grossartige Menschen auf der ganzen Welt die Initiative ergreifen und ihren Teil dazu beitragen, für das Gute zu kämpfen, das gibt mir Hoffnung. Auch dass ich nicht alleine bin, verleiht mir Motivation. Normalerweise ist die Arbeit als Interessenvertreterin sehr einsam. Es ist anstrengend, es ist zermürbend. Aber wenn man sieht, dass andere Menschen auf der ganzen Welt im eigenen Netzwerk ihr Bestes geben, weiss ich, dass es auf der Welt noch Positives gibt, dass es gute Menschen gibt.
Wie sieht das Leben der Frauen in Afghanistan im Moment aus? Man bekommt aktuell das Gefühl, dass die Welt auf die Ukraine, die USA und all die anderen Länder schaut, während Afghanistan fast vergessen scheint.
Seit dem Zusammenbruch Afghanistans wird die Situation immer schlimmer und schlimmer. Eine Gruppe von Männern ist in das Land gekommen ist - wir können sie nicht einmal als Regierung bezeichnen. Sie lassen die Frauen verschwinden und bestrafen sie, nur weil sie Frauen und Mädchen sind. Sie löschen sie aus der Gesellschaft aus – nur wegen ihres Geschlechts und ohne Rücksicht auf alles andere. Diese Männer haben das Land an sich gerissen. Sie haben keine Arbeit für Afghanistan geleistet. Es gibt nichts Positives, das sie aufgebaut hätten. Alles, was sie geleistet haben, ist die Unterdrückung der Frauen. Das ist traurig. Das ist beängstigend.
Die Taliban in Afghanistan
- Die Taliban sind eine islamistische Terrorgruppierung, die bereits von 1996 bis 2001 grosse Teile Afghanistans besetzt hatten. Nachdem sich westliche Truppen aus Afghanistan zurückgezogen hatten, rissen die Taliban im August 2021 erneut die Macht an sich. Seitdem sind die Rechte von Frauen stark eingeschränkt. Die Vereinten Nationen sprechen sogar von Gender-Apartheid. So ist es Frauen verboten, das Haus ohne männliche Begleitung zu verlassen. Sie müssen sich verhüllen und dürfen kaum am öffentlichen Leben teilnehmen, dürften keine Sportanlagen oder Freizeitparks besuchen. Es gibt Berichte, dass Frauen, die gegen das Tugendgesetz verstossen haben, verhaftet und gefoltert wurden.
"Sie sind ihrer Träume beraubt worden."
Haben Sie Kontakt zu Frauen in Afghanistan, die im Grunde versuchen, das zu tun, was Sie vor einigen Jahren getan haben, nämlich Fussball zu spielen beziehungsweise eine Art Schattenstruktur aufzubauen, um den Augen der Taliban zu entgehen? Ist das überhaupt möglich oder ist das zu gefährlich?
Ich nenne die junge Generation "die Generation der Träumerinnen". Denn unsere Generation und die Generation meiner Mutter, sogar meiner Grossmütter, haben so hart gekämpft. Und als die Taliban zum ersten Mal an die Macht kamen und ihre Macht verloren, als die westliche Welt in Afghanistan einmarschierte, als die westlichen Mächte von Hoffnung sprachen, davon, dass sie an der Seite der afghanischen Frauen stehen würden, all diese falschen Versprechungen, die den Frauen in Afghanistan gemacht wurden, hat uns das wirklich motiviert, gemeinsam etwas aufzubauen. Wir haben den jungen Mädchen gesagt, dass sie grosse Träume haben sollen, dass sie sich nicht zufrieden geben sollen, dass sie mehr verlangen sollen.
Und diese Generation von Träumerinnen ist ihrer Träume beraubt worden, man hat ihnen die Flügel genommen. Sie haben geträumt und gehofft, Ärztinnen, Ingenieurinnen, Pilotinnen, Fussballerinnen, Reisende zu werden. Sie hatten über die sozialen Medien Zugang zur Welt. Und sie sahen die Welt anders als meine Generation. Sie haben die Entwicklung gesehen. Sie wissen, was sein könnte. Die Situation derzeit wirkt sich auf ihre psychische Gesundheit, ihr Wohlbefinden aus. Es gibt mehr Selbstmordversuche. Die Frauen, die mit Gewalt konfrontiert waren und sich gegen ihren Ehemann, ihren Bruder oder wen auch immer, gewehrt haben, müssen nun mit ihnen zusammenleben. Denn Frauen in Afghanistan können nicht allein leben. Sie müssen mit Männern zusammenleben – entweder mit ihrer Familie oder sie werden gezwungen, einen der Taliban-Anhänger zu heiraten. Und Mädchen wird gedroht, dass sie schon in jungen Jahren verheiratet werden müssen, weil die Taliban sonst die Familien zwingen, ihre Tochter an einen ihrer Unterstützer zu geben. Also werden die jungen Mädchen im Alter von 12, 13, 14 Jahren verheiratet.

"Wir werden nicht aufgeben. Wir werden nicht kapitulieren. Wir sind immer noch da. Wenn die Welt anfängt, uns zu vergessen, werden wir den Frauen in Afghanistan weiterhin Bedeutung verleihen."
Ihr Buch trägt den Untertitel "Eine Geschichte über Mut, Hoffnung und das afghanische Frauen-Fussballteam". Inwiefern ist es für Sie immer noch eine Geschichte der Hoffnung? Denn wenn man Sie jetzt reden hört, ist es schwer, diese Hoffnung zu sehen.

Ja, es gibt sehr dunkle Geschichten in meinem Buch. Man fragt sich, warum diese Menschen nicht aufgeben, woher sie die Energie nehmen, weiterzukämpfen. Der Grund, warum es eine Geschichte der Hoffnung ist, ist, dass wir nicht aufgegeben haben. Ich versuche immer noch, mein Land Afghanistan durch unsere Geschichten, durch unsere Plattform in der Welt bekanntzumachen. Ich kämpfe und setze mich dafür ein, dass die Frauen-Nationalmannschaft Afghanistans wieder offiziell anerkannt wird. Unsere Spielerinnen, die dort stehen und ihre Stimme erheben, um unseren stimmlosen Schwestern in Afghanistan eine Stimme zu geben. Es gibt noch Hoffnung, dass wir den Kampf fortsetzen können. Wir werden nicht aufgeben. Wir werden nicht kapitulieren. Wir sind immer noch da. Wenn die Welt anfängt, uns zu vergessen, werden wir den Frauen in Afghanistan weiterhin Bedeutung verleihen. Wir werden reden. Und das tue ich durch den Fussball. Ich tue es durch meine Arbeit.
Die Fifa spielt in Ihrem Kampf um die Anerkennung der afghanischen Frauennationalmannschaft eine ziemlich wichtige Rolle. Gibt es irgendwelche Entwicklungen? Stehen Sie in Kontakt mit der Fifa oder haben Sie eine Bitte an sie oder eine Botschaft, die Sie gerne übermitteln würden?
Wir haben über drei Jahre lang vor verschlossenen Türen gestanden, es gab keine Kommunikation mit der Fifa. Aber vor kurzem, in den vergangenen zwei Monaten, hat die Fifa einen Dialog mit uns begonnen und versucht, die Komplexität der Situation zu verstehen. Ich habe den Fifa-Vertretern gesagt: "Wir wollen nicht gegen die Fifa kämpfen. Wir wollen mit euch gegen die Taliban kämpfen. Wir wollen, dass die Fifa uns als Dachverband des Fussballs unterstützt, dass sie die Frauen Afghanistans anerkennt, dass sie unseren Kampf anerkennt und uns erlaubt, die Taliban zu bekämpfen. Wir wollen nicht, dass ihr gegen die Taliban kämpft, sondern dass ihr uns helft, eine Plattform für den Kampf gegen die Taliban zu finden. Wir wollen nicht gegen euch kämpfen. Unser Ziel ist es, euch an Bord zu holen, um gegen die Taliban oder jedes Regime oder jede Gruppe zu kämpfen, die die Frauen aus der Gesellschaft verbannt hat. Und wir wollen, dass die Führung im Sport aufsteht und sagt: Frauen und Männer sind überall gleichberechtigt."
Der Fussball der Frauen hat in den letzten Jahren unter anderem in Europa, Australien und den USA eine grosse Entwicklung durchgemacht. Ist das etwas, das Ihrer Sache hilft?
Fussballerinnen sind grossartige Fürsprecherinnen. Deshalb bin ich so stolz darauf, Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Es gibt so viele grossartige Athletinnen da draussen, die Stellung beziehen, ihre Plattform nutzen und für das Richtige eintreten. Und das hat Auswirkungen auf die Gesellschaft, die Gemeinden, die Länder und die ganze Welt. Und das ist so wichtig. Es ist fantastisch zu sehen, dass der Frauenfussball, der Frauensport auf dem Vormarsch ist. Das hilft uns dabei, das System herauszufordern: "Oh, ihr redet über Geschlechtergerechtigkeit und Gleichstellung im Sport – aber was ist mit uns?" Wir fordern ein, was die Fifa in ihre Statuten aufgenommen hat, und nehmen den Weltverband in die Pflicht. Der Kampf für den Frauenfussball hilft also uns, und unser Kampf hilft ihnen. Es ist fantastisch, das Wachstum zu sehen, aber wir wollen auch sehen, dass es Investitionen an der Basis gibt, zum Beispiel für afghanische Flüchtlinge.
"Es geht um die Menschen, die Frieden und Entwicklung wollen. Wir sind keine Gruppe von Terroristen, die die Welt zerstören und ihr Geld nehmen wollen. Wir sind Menschen, die Frieden und einen positiven Beitrag in der Welt leisten wollen. Wir wollen das Bild durch den Sport verändern."
Manche Leute fragen sich vielleicht, warum es für Sie und die Frauen, die Fussball spielen, so wichtig ist, Afghanistan zu vertreten, denn von aussen betrachtet sieht es so aus, als hätte das Land Ihnen nichts als Schmerz gebracht beziehungsweise die Taliban hätten Ihnen nichts als Schmerz gebracht. Wollen Frauen Afghanistan immer noch repräsentieren? Was bedeutet Ihr Land für Sie und für diese Frauen?
Wir wollen die Frauen Afghanistans vertreten, die Nation, die gelitten hat und mit Ungerechtigkeit konfrontiert wurde. Das Land hat uns kein Leid gebracht. Die Einmischung der westlichen Welt hat uns Schmerz gebracht. Es war auch die Hand der westlichen Welt in Afghanistan, die Art und Weise und der Verrat, dem die Frauen Afghanistans durch die westliche Welt ausgesetzt waren. Und das afghanische Volk wird von der westlichen Welt im Stich gelassen.
Wir versuchen also zu sagen, dass es uns immer noch gibt. Wir wollen die starken und positiven Menschen repräsentieren. Und als wir zum ersten Mal Fussball spielten und Afghanistan vertraten, wollten wir der Welt ein anderes Bild von Afghanistan zeigen. Es geht um die Hoffnung. Es geht um die starken Frauen Afghanistans. Es geht um die Menschen, die Frieden und Entwicklung wollen. Wir sind keine Gruppe von Terroristen, die die Welt zerstören und ihr Geld nehmen wollen. Wir sind Menschen, die Frieden und einen positiven Beitrag in der Welt leisten wollen. Wir wollen das Bild durch den Sport verändern. Es geht also nicht darum, die Taliban zu repräsentieren. Es geht darum, dass wir das, was uns gehört, für uns beanspruchen, und nicht zulassen, dass eine Gruppe von Extremisten wie die Taliban es uns wegnimmt.
Wie hat es sich angefühlt, das Buch zu schreiben? Ich kann mir vorstellen, dass es wahrscheinlich ziemlich traumatisierend war, alles noch einmal zu durchleben.
Es war eine schwere Entscheidung. Ich habe all die öffentlichen Auftritte und all diese Dinge gemacht. Aber ich habe versucht, hier und da etwas zu erzählen. Ein Buch zu schreiben, die eigene Geschichte zu erzählen, sie öffentlich zu machen, ist etwas anderes. Man macht sich verletzlich und muss die eigenen Traumata überwinden, um zu den Erinnerungen zurückzukehren, die man so schwer verdrängen konnte. Aber ich musste zu den Erinnerungen zurückkehren, sie riechen, sie fühlen, die Farben sehen, sie sichtbar machen, um die Geschichte erzählen zu können.
Mehrere Jahre wollte ich kein Buch schreiben. Aber als die Welt anfing, die Frauen in Afghanistan zu vergessen, und auch die Geschichte Afghanistans in der westlichen Welt so schlecht und falsch dargestellt wurde, war ich traurig und untröstlich. In den Nachrichten sah ich, wie die Politiker sagten, dass die Menschen in Afghanistan nicht für sich selbst kämpfen wollten. Also dachte ich mir: Egal, was passiert, ich werde meine Geschichte erzählen. Selbst wenn ich nur 100 oder 50 Menschen erreiche, habe ich zumindest einen Beitrag geleistet. Ich habe mein Bestes getan, um die Menschen zu erreichen und zu erzählen, wie die Realität aussieht, wie sehr wir gekämpft haben. Und mein Beispiel ist eines von vielen.
Welche Bedeutung hat der Fussball heute für Sie? Macht er Ihnen immer noch Spass?
Ja, Fussball ist Freude. Fussball ist ein kraftvolles Spiel. Es ist wunderschön. Es hat eine Sprache: die Liebe. Egal, welche Sprache du sprichst, sobald der Ball ins Rollen kommt, beginnt er mit dir zu kommunizieren. Und die Kommunikation erfolgt über die Sprache der Liebe, der Einheit und des Friedens. Das ist ein mächtiges Werkzeug. Es ist ein mächtiges Werkzeug, um Menschen zusammenzubringen, um Menschen zu inspirieren, um Veränderungen zu bewirken.
Ich liebe dieses Spiel. Obwohl ich so viel Schmerz erleiden musste, hat mir dieses Spiel so viel gegeben und geboten, und dafür bin ich dankbar. Heute bin ich wegen dieses Spiels am Leben. Ich habe eine zweite Chance bekommen zu leben. Natürlich war ich irgendwann kurz davor, wegen dieses Spiels mein Leben zu verlieren, aber dann hat es mich gerettet. Es hat Hunderte und Tausende von Frauen und Mädchen auf der ganzen Welt gerettet. Ich habe mein Zuhause verloren, aber durch den Fussball und das Netzwerk des Fussballs hat sich die Definition von Zuhause für mich geändert: Ich sehe nicht mehr einen Ort als mein Zuhause an - Menschen sind mein Zuhause. Deshalb bin ich glücklich, und ich liebe das Spiel.
Verwendete Quellen
- Video-Interview mit Khalida Popal
- Khalida Popal: "Meine wundervollen Schwestern" (Edel Sports Verlag)