Das Stadt-Derby zwischen Boca Juniors und River Plate ist zu heiss geworden für Argentinien. Die beiden Klubs aus Buenos Aires müssen ihren Wettstreit um die Copa Liberdatores in Madrid austragen. Dort geht es nicht nur um den Sieg, sondern um den Ruf eines ganzen Landes.
Die Copa Libertadores ist der bedeutendste Vereinswettkampf Südamerikas. Formal ist sie mit der europäischen Champions League vergleichbar. Die beiden Sieger sind im Rahmen der Klub-WM gesetzt.
"Superclasico" nach Madrid verlegt
Real Madrid steht als Sieger der Champions League seit Monaten fest. Der Gewinner der Copa Libertadores wird am 9. Dezember ab 20.30 Uhr ermittelt. Nach dem Hinspiel, bei dem Boca Heimrecht genoss, steht es 2:2. Das Rückspiel wird dort ausgetragen, wo Real daheim ist, im legendären Estadio Santiago Bernabeu.
Wie kam es dazu? Wir sprachen mit einem Augenzeugen.
Experte Gruszecki schildert Chaos
Jan-Henrik Gruszecki gilt als ausgewiesener Kenner des südamerikanischen Fussballs im Allgemeinen und des argentinischen im Speziellen. Im Jahr 2014, als Deutschland gegen Argentinien Weltmeister wurde, strahlte der WDR die Doku "Ekstase und Schock - Die Fussballhauptstadt Buenos Aires" aus. Gruszecki produzierte sie gemeinsam mit dem Filmemacher Marc Quambusch.
Als der Ausgang der Copa Libertadores am 24. November im Final-Rückspiel zwischen River Plate und Boca hätte entschieden werden sollen, war Gruszecki dem Chaos ganz nah.
Er sei insgesamt sieben Stunden im Stadion gewesen, schildert Gruszecki. Um 17 Uhr Orstzeit sollte Anstoss sein. Mit Spannung und Ungeduld warteten die Fans auf das Erscheinen der beiden Mannschaften. Sie kamen aber nicht. "Um 17.02 Uhr gab es die erste Mitteilung an die Leute im Stadion."
Bocas Mannschaftsbus mit Steinen beworfen
Vor dem Stadion hatte eine aufgebrachte Menge von Fans des Gastgebers River Plate den Mannschaftsbus der Boca Juniors mit Steinen beworfen. Scheiben klirrten. Der Spieler Pablo Perez erlitt eine Verletzung am Auge.
Zu Gruszecki drang dieses Gerücht durch, als er bei seinem Kumpel in der brodelnden Arena angekommen war. Über denselben Weg, den 30 Minuten später auch der Boca Bus nahm.
"Dann sagte man uns, dass um 18 Uhr Anstoss ist. Um kurz vor sechs sagte man uns, dass um 19.45 Uhr Anstoss ist. Dass gar kein Anstoss ist, wurde nie mitgeteilt. Vielleicht sitzen immer noch Leute im Stadion und warten auf die nächste Mitteilung."
Blamage für Argentinien
An diesem Tag hat Argentinien sich blamiert. "Alle Argentinier, mit denen ich spreche, sagen: 'Wir sind das peinlichste Land der Welt.' Alle sind so peinlich berührt von ihrem eigenen Land, dass man beinahe Mitleid bekommt", gibt Gruszecki einen Einblick in die argentinische Seele. Sechs Jahre verbrachte Gruszecki in Buenos Aires.
Der Sicherheitsminister der Stadt Buenos Aires trat nach dem Angriff auf den Bus der Boca Juniors von seinem Posten zurück. Er übernahm damit die Verantwortung für "die Dummheit der Polizei", wie Gruszecki sie nennt, den Bus des verhassten Rivalen durch die wartenden River-Plate-Fans zu lenken.
Argentiniens Fans gelten als heissblütig und gewalttätig. Ihre Mannschaften dürfen sie im Rahmen der argentinischen Liga nicht mehr auswärts begleiten.
Gefahr besteht auch bei BVB gegen Schalke
BVB-Fan Gruszecki geht aber bewusst gegen ein falsches Bild von jenem 24. November 2018 vor. "Das wäre auch beim Spiel Dortmund gegen Schalke passiert", das zufälligerweise am Tag vor dem Showdown in Madrid stattgefunden hat. "Wenn der Schalker Mannschaftsbus vor der Südtribüne langfährt, fliegen auch Flaschen auf den Bus."
Madrid hat sich das vielleicht gefährlichste Spiel seiner Geschichte an die Backe geheftet. Etwa 5.000 Sicherheitskräfte sichern die Begegnung ab. Nicht einmal mit dem Aufwand rund um das brisanteste spanische Spiel, das Prestige-Duell zwischen Real und dem FC Barcelona, ist das zu vergleichen.
Argentinischer Fussball hat "Gewaltproblem"
Madrid hat Angst. "Der argentinische Fussball hat ein riesen Gewaltproblem", beschönigt Gruszecki nichts. "Es gibt hier regelmässig Tote. Das ist schon krass. Das ist eine andere Dimension als in jedem Land in Europa. Das hat aber mit dem Rückspiel in der Copa Libertadores nichts zu tun."
In diesem Fall lag die Ursache für die Spielabsage in der "dümmsten Idee, auf die man kommen kann", schüttelt Gruszecki den Kopf. "Es war klar, was passiert." Die Spieler der Boca Juniors wurden im Bus quasi ins Fadenkreuz der Fans des grössten Rivalen gelenkt.
Dieser Fehler ist in Madrid ausgeschlossen. Und aus diesem Fehler sollten sie auch in Argentinien für die Zukunft gelernt haben. Wobei Gruszecki aus eigener Erfahrung einschränkt: "Langfristig ist in Argentinien gar nichts."
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