Wer im Atlas nach der Insel La Réunion sucht, plant womöglich seinen nächsten Sommerurlaub, denkt aber nicht an Fussball. Daran ändert gerade die JS Saint-Pierroise etwas. Der Rekordmeister aus dem Paradies im Indischen Ozean sorgt für die Pokal-Sensation in Frankreich.
Es ist eine Binsen-Weisheit, dass der Pokal seine eigenen Gesetze hat. Dieser Spruch soll die Unberechenbarkeit des Wettbewerbs beschreiben, der alljährlich Teams aus verschiedenen Leistungsklassen aufeinanderprallen lässt.
Aus der Möglichkeit, dass der auf dem Papier klar unterlegene Verein den überlegenen besiegt, bezieht der Pokal seinen Reiz. Das ist nicht nur in Deutschland so.
Saint-Pierroise als "Le Petit Poucet"
Auch in Frankreich lieben sie diese Herausforderung des Goliaths durch den David. "Le Petit Poucet", den kleinen Däumling, nennen die Franzosen in Anlehnung an das gleichnamige Märchen des Schriftstellers Charles Perrault ihre Davids, die Goliath zu Fall bringen.
Die Besonderheit des Systems, nach dem der französische Pokal funktioniert, sorgt nun dafür, dass der David unter Umständen 9.000 Flugkilometer hinter sich bringt, um dann den Goliath auszuknocken.
Der FC Bayern München der Insel La Réunion
Die JS Saint-Pierroise ist deshalb gerade in aller Munde und schreibt Schlagzeilen weit über Frankreich hinaus. Der Klub war bereits 21-mal Landesmeister, zuletzt viermal in Serie. Er dominiert seine Liga wie hierzulande nur der FC Bayern München.
Diese Liga aber liegt auf La Réunion, einer der schönsten Inseln des Indischen Ozeans. In das von Vulkanen geformte Paradies verschlug es 1989 Kameruns Fussballlegende Roger Milla, den im Jahr darauf der Staatspräsident unverhofft zur WM-Endrunde nach Italien beorderte. Dort avancierte der vergessene Fussballrentner Milla als 38-Jähriger zur Attraktion des Turniers.
Von La Réunion aus sind es bis Madagaskar 700 Kilometer. Das Postkarten-Idyll Mauritius ist gar nur 200 Kilometer entfernt. Saint-Pierroises Gegner im französischen Pokal aber sind nur mit einem langen Flug zu erreichen, der fast 14 Stunden dauert. Um den Jetlag zu überwinden und sich bestmöglich auf die sportliche Herausforderung vorzubereiten, reist der Klub jeweils bereits eine Woche vorher an den Spielort.
Saint-Pierroise ist als Fussball-Meister der Insel La Réunion, die geografisch zu Afrika aber auch zu den französischen Überseedépartements gehört, im französischen Pokal startberechtigt.
Theoretisch winkt dem 1950 gegründeten Verein die Chance, 2020/21 an der Europa League teilzunehmen. Der Endspielsieg im Coupe de France qualifiziert dafür.
Im französischen Pokal starten 7.000 Mannschaften
Der 2:1-Erfolg beim Zweitligisten Chamois Niort bugsierte die Amateure der JS (Jeunesse Sportive, zu deutsch: Sport-Jugend, Anmerk. d. Red.) sensationellerweise in die erste K.-o.-Phase des Pokals. Von nicht weniger als 7.000 Mannschaften, die alljährlich das Rennen um die Trophäe aufnehmen, sind jetzt noch 32 übrig - und Saint-Pierroise ist mit dabei und deshalb plötzlich berühmt.
"Das ist historisch, einfach aussergewöhnlich", freute sich der Liga-Präsident La Réunions, Yves Etheve, im Gespräch mit Frankreichs führender Sportzeitung "L'Équipe". Der mit dem Erfolg auf dem Rasen einhergehende Marketing-Effekt ist unbezahlbar. "Das geht über den Fussball hinaus", frohlockt Etheve. "Es ist eine grossartige Werbung für unseren Sport, aber auch für unsere Insel."
La Réunion hat etwas mehr Einwohner als Frankfurt am Main
Auf La Réunion leben etwas mehr als 850.000 Menschen. Das sind knapp 100.000 mehr als in Frankfurt am Main. Wie viele von ihnen Fussball spielen, ist nicht bekannt.
La Réunions Nationalmannschaft darf sich mit fünf Titeln immerhin Rekordsieger der Fussballturniere bei den Indian Ocean Games nennen. Die finden seit 1979 statt, seit 2003 in einem Rhythmus von vier Jahren. La Réunions Fussball-Auswahl gewann 2019 die zehnte Auflage durch einen Sieg im Elfmeterschiessen über die Elf aus Mauritius.
Kein Mitglied der FIFA
Da die Insel aber nicht zu den Mitgliedern des Weltfussballverbands FIFA zählt, darf sie an Qualifikationsspielen zur WM nicht teilnehmen.
So bleibt vorerst "nur" die Teilnahme des jeweiligen Landesmeisters am französischen Pokal, um global ins Rampenlicht zu rücken. Das nächste potenzielle "Opfer" des krassen Aussenseiters ist der SAS Épinal. Der einstige Zweitligist spielt aktuell in der vierten Liga, also zwei Klassen tiefer als Niort, das sich nach der Blamage vom 4. Januar umgehend von Trainer Pascal Planque trennte.
Das Erstaunliche: Hunderte Fans aus La Réunion begleiteten ihre Mannschaft auf der strapaziösen Reise nach Niort und feuerten sie dort an.
"Die Menschen in La Réunion sind verrückt nach Fussball", beschrieb Elliot Grandin in einem Gespräch mit der BBC. "Das Stadion in Niort war voll von Menschen aus Réunion."
Die Fans fliegen zu Hunderten mit nach Frankreich
Zu seinem Erstaunen habe Grandin, der es einst in England bei Crystal Palace bis in die berühmte Premier League schaffte, auf den Rängen lauter bekannte Gesichter entdeckt. "Ich weiss nicht, wie sie das mit der Reiserei machen", fügte Grandin an. Sicher sei er aber, "dass sie wiederkommen."
Angesichts dessen - und aufgrund des 2:1 in Niort - könnte man Saint-Pierroise am 18. Januar in Épinal fast schon die Rolle des Favoriten zuschieben. Einen Klub aus einem französischen Übersee-Gebiet im Achtelfinale des französischen Pokals hat es bislang noch nie gegeben. 1989 scheiterte der Meister aus Französisch-Guyana, der ASC Le Geldar, beim bisher einzigen Versuch am FC Nantes.
Für Grandin zählt angesichts der historischen Chance auch in Épinal nur der Sieg. "Für die Insel ist das bereits Fussballgeschichte", sagte der 32-Jährige. "Aber wir werden alles dafür tun, um es auch in die nächste Runde zu schaffen."
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