England und die Niederlande haben den Anschluss an die Spitze verloren. Belgien hingegen gilt als ein Titelfavorit der Europameisterschaft. Die Machtverhältnisse im Welt-Fussball haben sich verändert. Warum? Eine Spurensuche.
Deutschland gegen England klingt wie ein Aufeinandertreffen zweier grosser Fussball-Nationen. Am Samstag kommt's zum Klassiker. Jedoch: Mit einer Partie auf absolutem Spitzenniveau darf man dennoch nicht unbedingt rechnen.
Denn: Die englische Nationalmannschaft hat sich längst von der Weltspitze verabschiedet. In der FIFA-Weltrangliste stehen die "Three Lions" gerade noch auf Platz neun, könnten aber schon bald von Österreich überholt werden. Von Österreich!
Bei Grossturnieren sind Flops ohnehin vorprogrammiert. Seit der EM 1996 erreichten die Engländer kein Halbfinale mehr. 2008 verpassten sie sogar die EM-Qualifikation. Mit diesem Schicksal stehen sie nicht alleine da. Viele einst so grosse Fussball-Nationen stecken in der Dauerkrise.
Eine EM ohne Holland - kaum zu glauben
Die Niederlande haben das Kunststück fertig gebracht, trotz des vergrösserten EM-Teilnehmerfeldes (24 statt 16 Mannschaften) in der Qualifikation zu scheitern. Selbiges geschah zur Weltmeisterschaft 2002. Frankreich konnte sich zuletzt zwar immer qualifizieren, kam aber seit dem Finaleinzug 2006 bei keinem Grossturnier über das Viertelfinale hinaus. Bei der EM 2008 und WM 2010 scheiterten sie sogar in der Vorrunde.
Auch in Südamerika verloren die grossen Fussball-Nationen ihre Übermacht. Argentinien hat nach 1986 keine Weltmeisterschaft mehr gewonnen, nach 1993 keine Copa America (eine zuletzt zweijährig stattfindende Südamerika-Meisterschaft). Nicht ganz so dramatisch ist die Lage in Brasilien, die im neuen Jahrtausend immerhin zweimal die Copa America und einmal die Weltmeisterschaft gewannen. Doch hat das 1:7 im WM-Halbfinale gegen Deutschland gezeigt, dass auch der brasilianische Fussball nicht mehr das Nonplusultra ist.
Erleben wir eine Wachablösung?
Es scheint, als würde im Weltfussball zumindest teilweise eine Wachablösung stattfinden. Nationen, die vor einigen Jahren noch belächelt wurden, machen die einstigen Giganten so richtig nass. In Südamerika gewannen zuletzt Chile und Uruguay die Kontinentalmeisterschaft. Weltweit ist das kleine Belgien die Nummer eins, wenn man der FIFA-Weltrangliste Vertrauen schenkt.
Marc Wilmots ist seit vier Jahren Cheftrainer der belgischen Nationalmannschaft. Er weiss, wie das Königreich überraschend zu einer Fussball-Macht wurde. "Die belgischen Klubs haben erkannt, dass sie mit Budgets von 30 bis 40 Millionen Euro nicht mithalten können und auf den Nachwuchs gesetzt", sagt er im Interview mit der "Welt". "Wenn ich einen talentierten Jungen habe, lasse ich ihn nicht warten. Dann werfe ich ihn rein. Vor drei Jahren kannte keiner De Bruyne, Benteke oder Courtois. Heute kennt sie jeder."
Ganz anders die Situation in der Niederlande. Spieler mit grossem Namen, die längst über ihren Zenit hinaus sind, haben dort die verpatzte EM-Qualifikation mit verursacht. "Wenn Robin van Persie und Wesley Sneijder ehrlich zu sich selber sind, müssen sie sich eingestehen, dass sie zwar noch gut sind, aber nicht mehr das Weltklasse-Niveau von vor vier oder fünf Jahren abrufen können", sagt der niederländische Ex-Profi und heutige Fernsehexperte Erik Meijer. "Das eigentliche Problem ist: Wir haben keine Jungs in der Hinterhand, um das aufzufangen."
Immer wieder heisst das Problem Nachwuchsarbeit
Somit wären wir wieder beim Thema Nachwuchsförderung. Früher spuckte die Niederlande ein Mega-Talent nach dem anderen aus. 2006 und 2007 gewann man noch die U 21 Europameisterschaft. Dann ging es steil bergab. Bei drei der letzten vier U 21 Europameisterschaften gelang nicht einmal die Qualifikation.
Viele Fussball-Nationen sind vorbeigezogen. Der niederländische Sportjournalist Elko Born verrät auf Sport1: "Die anderen Ländern haben von den Niederlanden gelernt, die Niederlande aber nicht genug von den anderen Ländern."
Ein häufiger Vorwurf lautet, dass im niederländischen Nachwuchs zu viel Wert auf schönen Fussball gelegt, jedoch keiner Sieger-Mentalität vermittelt wird. Nicht viel anders ist es in Brasilien und Argentinien, wo die Technik im Vordergrund steht.
In den Niederlanden kommt noch ein Problem hinzu: Viele Fussballvereine stecken in finanziellen Schwierigkeiten. Im März 2015 teilte die Lizenzkommission des niederländischen Fussballverbandes KNVB mit, dass sich die Anzahl der betroffenen Klubs innerhalb eines Jahres verdoppelt hat. Es ist anzunehmen, dass sich das auch auf die Nachwuchsarbeit auswirkt.
Wenn zu viel Geld zu einem Problem wird
Doch auch Geld würde keinen Erfolg garantieren. Ansonsten wäre England mit ihrer schwerreichen Premier League nahezu unschlagbar. Davon ist die Mannschaft von Trainer Roy Hodgson weit entfernt. Schlimmer noch: Die finanzielle Übermacht der Liga ist für die Nationalmannschaft zu einem Problem geworden.
Bei Manchester United & Co. gilt das Motto: Wozu mit viel Mühe eigene Talente fördern, wenn man sich problemlos internationale Top-Spieler kaufen kann? Der Anteil ausländischer Spieler in der Premier League betrug zum Saisonbeginn laut "statistia" "68 Prozent. Zum Vergleich: In der deutschen Bundesliga sind es 48 Prozent.
"Die Engländer schaufeln sich ihr eigenes Grab", sagt Mainz-Manager Christian Heidel zur "Welt". "Für den englischen Fussball und die Nationalmannschaft ist das nicht gut. So wird man keine EM oder WM gewinnen."
Es kann also sogar ein Vorteil sein, wenn die Vereine mit dem Geld nicht um sich schmeissen können. Vielleicht sollten das die deutschen Klubs hin und wieder bedenken, wenn sie auf die scheinbar paradiesischen Möglichkeiten in England schauen.
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