Thomas Tuchel ist Englands neuer Nationaltrainer. Es gibt wohl kaum einen Job in Europa, der mehr Emotionen auslöst, als die englische Bank. Und nun sitzt dort ein Deutscher, der es schon aufgrund seiner Nationalität schwer haben wird, die Herzen der Engländer zu erobern. Die englische Presse jedenfalls wird ganz genau hinschauen. Hat sich Thomas Tuchel damit einen Gefallen getan?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Sabrina Schäfer sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Es wirkt wie eine Ewigkeit im Fussballzirkus, aber so lange ist es gar nicht her, dass sich Thomas Tuchel mit dem täglichen Medienzirkus rund um den FC Bayern auseinandersetzen musste. Und er tat das nicht immer souverän und schon gar nicht mit Freude. Man erinnere sich nur an seinen Dauer-Zwist mit den TV-Experten Didi Hamann und Lothar Matthäus, deren Einschätzungen Tuchel zeitweise so nervten, dass er sich in Pressekonferenzen zu Seitenhieben hinreissen liess ("Sehe bei den beiden auch keine Entwicklung").

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Die Münchner Kritik-Schickeria hat er mit seinem Abschied von den Bayern hinter sich gelassen, nun sind ein paar Monate ins Land gegangen und Tuchel hat einen neuen Job. Wie die FA am Mittwochvormittag verkündete, wird er der erste deutsche Trainer der englischen Nationalmannschaft.

Die englische Presse ist berüchtigt

Und sagen wir mal so: Im Vergleich zur englischen Presse wirken Matthäus und Hamann doch halbwegs harmlos. Die englischen Tabloids sind berüchtigt. Bei Duellen zwischen England und Deutschland wird gerne ganz tief in die Weltkriegswortspielkiste gegriffen. Die vermeintliche Feindschaft zwischen England und Deutschland wird seit Jahrzehnten mit Gusto gepflegt.

Und jetzt soll ausgerechnet ein Deutscher die Engländer aus ihren zahlreichen "years of hurt" befreien. Die "Daily Mail" setzt den Ton, auf den sich Tuchel einstellen darf. "Ein schwarzer Tag für England", überschreibt die Boulevard-Zeitung den Kommentar zur Tuchel-Entscheidung und falls nicht gleich jeder verstanden hat, worauf das Blatt hinauswill, wird es in einem anderen Text nur allzu deutlich: "Wir brauchen keinen Thomas Tuchel, wir brauchen einen Patrioten."

Der Podcast "This is football" mit den Ex-Nationalspielern Gary Lineker, Alan Shearer und Micah Richards nahm noch am Dienstagabend, als die Tuchel-Meldung in den Medien die Runde machte, eine Notfall-Folge auf. Besondere Zeiten erfordern besondere Massnahmen. Und während Lineker die Runde mit einem Scherz eröffnet ("Wenn du sie nicht besiegen kannst, nimm sie unter Vertrag") so wird auch in dieser Runde - die sich grundsätzlich sehr wertschätzend über Tuchel äussert - klar: Den Experten wäre ein englischer Trainer lieber gewesen.

Und so halbwegs nett sie jetzt noch über Tuchel reden: Nicht nur Lineker und Shearer sind bekannt dafür, bei Misserfolgen kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Tuchel darf sich künftig auch noch mit Ex-Spielern wie Gary Neville, Jamie Carragher und Roy Keane auseinandersetzen, der Wort vor allem bei den Fans noch immer grosses Gewicht haben.

Tuchel-Entscheidung nagt am englischen Selbstverständnis

Der Job des Nationaltrainers ist in England hochemotional aufgeladen. Einerseits, weil das Land eben schon so lange auf einen Titel wartet. Andererseits nagt es am englischen Selbstverständnis, dass offenbar keinem englischen Trainer der wichtigste Job im englischen Fussball zugetraut werden kann.

Mit Gareth Southgate hatte man lange Jahre jemanden an der Seitenlinie, dem in all seiner gentlemanhaften Zurückhaltung die Britishness aus den Poren floss und der bereits als Spieler tiefe Täler mit der Nationalmannschaft durchschritten hatte. Er war eine Identifikationsfigur, dem man in England auch hässlichen Fussball verziehen hatte, solange er irgendwie Spiele gewann.

Zur Identifikationsfigur wird Tuchel in England vermutlich nie werden. Und man mag sich gar nicht vorstellen, wie die englische Presse reagiert, wenn die ersten Spiele unter ihm nicht so verlaufen, wie gewünscht. Galt schon beim FC Bayern für Tuchel ein Niederlagenverbot, ist der Druck als England-Trainer noch einmal höher - und das bei weniger Spielen. Die Trainerbank als Dampfdrucktopf, in dem es schon vor Tuchels Start gewaltig brodelt. Und die englischen Medien werden dazu ihr Übriges beitragen. Man wird sehen, ob Tuchel aus seinen Medienscharmützeln in München gelernt hat.

Tuchels einzige Chance ist ohnehin Erfolg. Sollte er es schaffen, das Talent, das ohne Frage bei den Three Lions zuhauf vorhanden ist, auf die Siegerstrasse zu führen und die Leidenszeit Englands zu beenden, wäre er vermutlich der beliebteste Deutsche, der jemals englischen Boden berührt hat. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

Quellen

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