Mit Gianluigi Buffon verlässt der letzte Spieler mit echter Grösse die Squadra Azzurra. Buffons Heldenstatus war in den letzten Jahren ins Unermessliche gestiegen - dabei waren seine Jugendjahre nicht frei von peinlichen Verfehlungen.
Am Ende litten nicht nur die Nation, sondern auch grosse Teile der Sportwelt mit Gianluigi Buffon. Dieser grosse, harte Mann aus der Toskana, das Symbol des unerschütterlichen Calcio, weinte bitterliche Tränen im Mikrofon des TV-Senders "Rai". Das San Siro hielt für einen Moment den Atem an, weil jeder auf den Tribünen ahnte, was da unten auf dem Rasen vor sich ging.
Gianluigi, den alle nur Gigi nennen, gab seinen Rücktritt aus der Squadra Azzurra bekannt. 20 Jahre und 15 Tage nach seinem Debüt im Nationaldress an einem regnerischen, kalten Oktobertag in Moskau.
Mit Buffon geht der letzte Vertreter italienischer Grandezza von Bord, nach Kultfiguren Fabio Cannavaro, Francesco Totti und zuletzt Andrea Pirlo nimmt der Calcio Abschied auf Raten von einem der Grössten überhaupt.
Buffon ist der Welttorhüter, der Weltmeister, er hat mit Juventus acht offizielle und zehn inoffizielle Scudetti errungen und wurde gerade im Herbst seiner Karriere zu einem Sinnbild für Fairplay und Grösse, wie es wahrlich nicht alle Stars der Szene für sich beanspruchen können.
Einen letzten Akt seines Sportsmanship vor dem letzten Akt seiner Laufbahn in der Nationalmannschaft zeigte er in den Minuten vor dem Showdown gegen die Schweden.
Eine letzte grosse Geste
Während ein beträchtlicher Teil der Tifosi die schwedische Nationalhymne in Grund und Boden pfiff und der Lärm im Giuseppe-Meazza-Stadion nahezu infernale Ausmasse annahm, reagierte Buffon mit einer simplen Geste: Er beklatschte die Hymne des Gegners, als Zeichen seines Respekts.
Kleine oder grössere Gesten wie diese haben Buffon zuletzt zu jenem Leuchtturm des Fussballgeschäfts gemacht, als der er wahrgenommen wird. Und weshalb nun viele auch so traurig sind über seinen schleichenden Rückzug.
In einem Land, das vom Fussball lebt und Fussball atmet, werden schnell Heldengeschichten erzählt. Buffon aber hat etwas geschafft, das nur wenigen Spielern überhaupt gelingt: Er wurde auch von seinen schärfsten Gegnern nicht nur respektiert, sondern bisweilen auch verehrt.
Deshalb wurde sein tränenüberströmtes Antlitz in der Nacht zum Dienstag nicht nur zum Spiegelbild einer ganzen Nation, sondern sorgte unter den Puristen des Fussballs weltweit für Bestürzung.
Millionenfach trudelten Tweets und Posts in den sozialen Medien ein, fast alle mit demselben Tenor: Einer der Grössten dieses Sports verabschiedet sich für immer.
Das Faible für einen standhaften Recken, der in den letzten Jahren seiner Karriere nur noch spielen wollte und die von den Verbänden am Reissbrett entworfenen "Respect"-Kampagnen auf dem Rasen auch mit Leben gefüllt hat, war in den letzten Monaten so gross wie nie zuvor.
Nicht immer ein Vorzeigeprofi
Das hat natürlich mit Buffons Erfolgen zu tun - vor allen Dingen aber auch mit den vielen Misserfolgen, die er hat einstecken müssen. Buffon haftet das Etikett des sympathischen, tragischen Verlierers an. Klar gibt es den WM-Titel und massenhaft errungene nationale Titel. Aber auf internationalem Parkett mit Juventus war Buffon immer der grosse Verlierer.
Mit dem AC Parma hat er mal den UEFA-Cup gewonnen, das war vor fast 20 Jahren. Mit Juventus ist er in allen drei Champions-League-Finals gescheitert. 191 Zentimeter geballte Entschlossenheit sind dann in sich zusammengefallen, zuletzt bei der Niederlage gegen Real Madrid vor wenigen Monaten.
Buffon war immer auch der Antipode zu den ganzen Stars und Sternchen und selbst ernannten Bad Boys des Fussballs.
Als Torhüter war er dafür zuständig, die Ronaldos und Messis aufzuhalten; er war der Star seiner Zunft, grösser als Iker Casillas und Manuel Neuer und titanenhaft wie zuletzt allenfalls Oliver Kahn.
Das war nicht immer so. In seinen jüngeren Jahren, gerade in der Anfangszeit bei Juventus, hielt er es doch sehr mit La Dolce Vita.
Er verbrachte viel Zeit auf den Pferderennbahnen rund um Turin und wechselte seine Partnerinnen in schöner Regelmässigkeit.
Und ihm wurde als Mittzwanziger wie so vielen anderen italienischen Spielern auch ein latenter Hang zu den Idealen des "Duce" Benito Mussolini nachgesagt. Unterfüttert hat Buffon diese Vermutungen mit allerhand dummer Aktionen, wie nach dem WM-Triumph 2006.
Immer wieder Gerüchte
Während der Siegesfeier schwenkte er da ein Transparent, das ihm ein paar Tifosi in die Hand gedrückt hatten. Darauf war das keltische Runenkreuz der neofaschistischen Bewegung "Forza Nuova" zu sehen und der Schriftzug "Wir sind stolz, Italiener zu sein". Buffon will das nicht bemerkt haben und die Fans auch nicht gekannt haben, die ihm den Fetzen Stoff überreichten.
In Parma hatte er einst die Rückennummer 77, dann wollte er die "00", das bedeutet "zwei Eier", wie er in seiner Biografie schreibt. Als das nicht möglich war, wählte er die 88, also "vier Eier". Aber eben auch die von Neonazis häufig gebrauchte Zahlenkombination für den Hitlergruss. "Wer ahnt denn, dass hinter dieser Zahl der Hitlergruss steht?! Das wissen doch wirklich nur Nazis!"
Ebenfalls in Parma trug er einst ein Shirt unter dem Trikot mit der Aufschrift "Boia chi molla", "Wer nachgibt, gehört gehängt" - ein Spruch des faschistischen Aufstands in Süditalien in den 70er Jahren.
Von alldem habe er nichts gewusst oder die Symbolik dahinter nicht so recht verstanden. Den Spruch habe irgendeiner seiner Mitspieler in Parmas Fussballinternat mal zum Besten gegeben. Buffon habe er ganz gut gefallen.
Ein grosses Ziel bleibt
Die Italiener sind aber Weltmeister darin, schnell zu vergessen und zu vergeben und so blieben diese Jugendsünden oder, wie es der ehemalige Nationalcoach Dino Zoff umschrieb, die "dummen Streiche", nicht besonders lange an seinem Image kleben. Ganz im Gegenteil wurde Buffon immer ruhiger, weltmännischer und doch so heimatliebend und volksnah.
Als er längst Profi war, besuchte er seinen Heimatklub Carrarerse Calcio regelmässig als Tifosi auf den Tribünen. Die Fahrten dorthin absolvierte er stets mit dem Zug und ohne gültigen Fahrschein. Der Multi-Millionär als kleines Schlitzohr, das die Obrigkeit an der Nase herumführt. So wurde er am liebsten gesehen.
Erst als er mit Selbstzweifeln und Depressionen zu kämpfen hatte, wurde er ruhiger und in den letzten Jahren zu jenem Buffon, den die Welt kennen und lieben gelernt hat.
Die schallende Ohrfeige, die sich die Squadra Azzurra eingehandelt hat und das nationale Trauma, die Schande von San Siro, werden an ihm am wenigsten haften bleiben. Gigi Buffon verlässt die eine grosse Bühne mit erhobenem Haupt.
Und wer weiss, ob er im Sommer nicht doch noch das andere grosse Lebensziel erreichen wird: Den Gewinn der Champions League mit Juventus Turin.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.