Die Klatsche gegen die Tottenham Hotspur hinterlässt einen fassungslosen Jürgen Klopp. Der FC Liverpool lässt unter dem Deutschen kaum eine Entwicklung erkennen, der Trainer gerät zunehmend in Erklärungsnot. Die Magie aus Klopps Anfangszeit in Liverpool ist längst dem tristen Alltag gewichen.
Jürgen Klopp überlegte noch kurz, dann gab er die Antworten darauf, wie es zu solch einem katastrophalen Spiel und zu so einer bedenklichen Serie kommen konnte.
Der FC Liverpool hat in den ersten neun Spielen so viele Gegentore kassiert wie zuletzt vor 53 Jahren, das 1:4 gegen die Tottenham Hotspur war bereits das dritte Spiel der Saison, in dem sich die Reds im Spiel gegen den Ball wie eine Schülermannschaft anstellten.
Zunächst vermied ein sichtlich konsternierter
"Es ist schwierig, das alles zu erklären - weil ich keine Schlagzeilen produzieren möchte. Das würde uns nicht helfen. Aber wir haben einfach unfassbar schlecht verteidigt.
Wir hatten alle diese Momente vorher klar angesprochen, jeder wusste Bescheid. Aber wir waren nicht da, wir waren nicht auf dem Platz. Und das ist meine Verantwortung."
Harte Worte von Klopp
Unter der Woche hatte die Mannschaft noch 7:0 in der Champions League gewonnen, der Auswärtssieg gegen Maribor war der höchste in der langen Europapokalhistorie der Reds.
Dass sein Team deshalb ein Einstellungsproblem gehabt haben könnte, wollte Klopp so nicht bestätigen. Er wolle keine einzelnen Spieler an den Pranger stellen, also nahm Klopp die komplette Mannschaft beim ersten Gegentor in Kollektivhaft.
"Wäre ich in dieser Situation auf dem Platz gewesen, wäre Harry nicht an den Ball gekommen - das Tor wäre mit mir auf dem Platz nicht gefallen." Ein vernichtendes Urteil eines 50-Jährigen, der kein einziges Spiel in der ersten Liga absolviert hat.
So krass sich der etwas schiefe Vergleich auch anhörte, so wahr war er im Kern. Der FC Liverpool ist auch zwei Jahre nach Klopps Auftauchen an der Mersey gelinde ausgedrückt eine Wundertüte.
Die Kritiker, die bereits seit Monaten mahnen, dürfen sich mittlerweile einigermassen bestätigt fühlen. Die Reds haben weder den Kader noch ein Spielsystem, das sie ernsthaft als Kandidat für einen der vorderen Plätze ausweisen könnte.
"Wir müssen derzeit nicht über die Top Four sprechen. Wir sind Neunter, mit der schlechtesten Statistik seit 1964", sagte Klopp. Es ist noch keine drei Wochen her, da wirkte Klopp deutlich kämpferischer.
"Es sind harte Zeiten für uns, aber auch andere Mannschaften werden so Situationen erleben. Die Saison ist lang und ich finde nicht, dass wir als Mannschaft weit von den Titelkandidaten entfernt sind", sagte er damals nach einem dürren 1:1 gegen Aufsteiger Newcastle.
Liverpool stagniert, der Rest überholt
Die Mannschaft des "The Normal One" liefert "normale", gewöhnliche Leistungen ab. Das ist der Tenor, der in den englischen Medien die Runde macht.
Das ist in der Form zwar nicht zulässig, immerhin ist der FC Liverpool durchaus auch eine Mannschaft für magische Momente und grosse Spiele. Aber nimmt man die kompletten zwei Jahre mit Klopp als Teammanager als Grundlage, dann tritt der aktuelle Tabellenneunte auf der Stelle.
Das wird dann umso gefährlicher, da der Rest der grossen Klubs auf der Insel aus seiner fussballerischen Diaspora aufgewacht ist und links und rechts an den Reds vorbeizieht.
Der FC Chelsea hat sich neu erfunden (gerade allerdings auch ein paar Probleme), Manchester United spielt die beste Saison seit langem, die Spurs sind mehr als nur ein Geheimtipp und Manchester City dürfte in der momentanen Verfassung die beste Mannschaft der Welt sein. Liverpool dagegen stagniert.
"Man sieht ein grossartiges Spiel im Stadion, bis man zuhause den Fernseher anschaltet - in der Zusammenfassung des Spiels sieht es immer so aus, als würde man einem Kneipenteam zuschauen! Sie bekommen schlimme Gegentore", klagte Reds-Legende Robbie Fowler schon vor Wochen über das fahrlässige Defensivverhalten seiner grossen Liebe.
Schlechte Defensivarbeit
Klopps Spielsystem hat sich ein wenig überholt. Auch in der Bundesliga ist längst der Trend auszumachen, dass reine Pressing-Gegenpressing-Mannschaften zwar absolut solide verteidigen können, in der Offensive aber kaum noch etwas zustande bringen.
Das Niveau der Bundesliga ist derzeit in etwa so mau wie das des FC Liverpool. Nur dass es die Reds mit exakt gegensätzlichen Problemen zu tun haben.
Klopp musste der Mannschaft mehr Ballbesitzspiel beibringen, in diesem Übergang vom Überfall-Konterfussball zum Positionsspiel steckt seine Mannschaft derzeit fest.
Inhaltlich ist das längst nicht State-of-the-Art, es ist nichts Besonderes. Dabei verfügt die Mannschaft in Mohamed Salah, Philippe Coutinho, Roberto Firmino und dem derzeit verletzten Sadio Mane über eine der aufregendsten Angriffsreihen Europas.
Die lässt ihr Können auch immer mal wieder aufblitzen, kann aber auch die Missstände in der Defensivbewegung nicht in jedem Spiel mit drei oder mehr Toren wettmachen.
"Die vielen Gegentore sind für mich wirklich hart. Eigentlich bin ich ein guter Defensiv-Trainer", sagt Klopp. "Solange es nicht jeder Spieler richtig macht, werden wir daran arbeiten. Und sobald es jeder richtig macht, werde ich dafür sorgen, dass wir es bis an unser Lebensende genauso umsetzen." Klopp selbst spricht das eigentliche Problem damit indirekt auch schon an.
Transferpolitik in der Kritik
Liverpools Mannschaft verträgt nicht so viele Künstler, die nur wenig übrig haben für ein geschlossenes, kollektives Defensivspiel. Diese Unwucht im Kader wurde schon im September mehrfach gerügt, Liverpool sei in der Defensive qualitativ einfach nicht gut genug aufgestellt.
Nun ist Klopp anders als in Deutschland ja nicht nur Coach, sondern Teammanager, also Trainer und Sportdirektor in einer Person und damit die letzte Instanz aller Spielertransfers.
Klopp hat sich im Sommer auf den Innenverteidiger Virgil van Dijk konzentriert. Als der Transfer nicht zu realisieren war, holte Klopp lieber gar keinen Verteidiger mehr als einen Notkauf.
Einen konkreten Plan B, Plan C oder Plan D gab es offenbar nicht. Diese Versäumnisse und vielleicht hat auch seine Sturheit holen ihn jetzt ein.
Der FC Liverpool fröhnt mal wieder zu sehr seinem Idealismus und dem Pathos. Aber er vergisst, dass für Titel und Triumphe auch eine gute Portion Pragmatismus und Realismus vonnöten sind.
Derzeit haben die Reds und mit ihnen ihr Trainer keinen tragfähigen Plan, wie sie einen guten Mittelweg beschreiten könnten. Die Meisterschaft dürfte bei zwölf Punkten Rückstand auf ManCity längst passé sein.
Das Rennen um die Champions-League-Plätze ist aber noch völlig offen. Aber dafür wäre langsam ein Strategiewechsel von Nöten.
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