Brasilien kämpft mit den schweren Auswirkungen der Corona-Pandemie. Dennoch wollen der Präsident, der brasilianische Fussballverband und auch die Vereine wieder in den Liga-Betrieb starten - denn andernfalls droht ein Klubsterben.

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Das Coronavirus verbreitet sich in Brasilien weiterhin rasant. Gerade erst wurden knapp 68.000 bestätigte Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden registriert.

Dennoch drängen der selbst mit Corona infizierte Präsident Jair Bolsonaro, die Klubs und nun auch der brasilianische Fussballverband (CBF) auf eine Wiederaufnahme des Spielbetriebs in der ersten und zweiten Profi-Liga. Nach jetzigem Stand soll der Ball ab dem 8./9. August wieder rollen – die Zustimmung der örtlichen Gesundheitsbehörden vorausgesetzt.

João Doria, Gouverneur des Bundesstaats São Paulo, kritisiert die Pläne. Einerseits sei bis dahin die Meisterschaft des Bundesstaats noch gar nicht abgeschlossen. Mit Corinthians, Palmeiras, Red Bull Bragantino, Santos und São Paulo sind fünf Klubs betroffen. Zudem habe er wegen der Kurzfristigkeit des geplanten Starts hygienische Bedenken.

Krankenhaus neben Stadion

Der CBF konterte der Kritik prompt. Die Klubs aus São Paulo hätten dem Plan zugestimmt, teilte der Verband in einer Erklärung mit, die auf "Lance.com.br" zu lesen ist. Viele Klubs der ersten und zweiten Liga seien zudem bereit, Heimspiele in anderen Städten oder gar Bundesstaaten zu bestreiten, wenn das nötig sein sollte.

Der Klub Fluminense aus Rio de Janeiro hat unterdessen darum gebeten, einen Teil seiner Heimspiele im altehrwürdigen Maracanã-Stadion spielen zu dürfen. Das geht vielen Fans aber zu weit.

Denn während der Pandemie befindet sich gleich neben dem Stadion eines der grössten provisorischen Krankenhäuser. COVID-19 und Fussball so nah beieinander - das stösst selbst Hardcore-Fans bitter auf.

Ausgerechnet jener Klub Fluminense war es auch, bei dem nach dem Spiel gegen Volta Redonda FC in der Campeonato Carioca - der Staatsmeisterschaft von Rio de Janeiro - drei Spieler positiv auf das Coronavirus getestet worden waren.

Ginge es nach Präsident Bolsonaro, würde der Ball längst wieder rollen. "Wenn es von meinem Votum abhängt, stimme ich zu", zitierte "Globo Esporte" den Präsidenten bereits im April. Da war die Corona-Pandemie gerade erst in Brasilien angekommen, die weiteren Entwicklungen noch gar nicht abzusehen.

Inzwischen ist Brasilien eines der am schlimmsten betroffenen Länder der Welt: Mehr als 2,2 Millionen Menschen infizierten sich laut Johns Hopkins University mit SARS-CoV-2, mehr als 82.000 Menschen starben an den Folgen der Infektion (Stand 23. Juli) - Tendenz: steigend. Nur die USA weisen noch höhere Fallzahlen auf.

"Es ist verrückt, von einer Rückkehr zu sprechen"

Seit Beginn der Pandemie war Bolsonaro ein Gegner von Distanzmassnahmen und Kontaktverboten, stattdessen sprach er sich sogar für die Öffnung des Wirtschaftsgeschehens aus. Demnach war seine Haltung gegenüber des Spielbetriebs nur konsequent.

Die Kritik folgte auf dem Fusse: Denilson, Weltmeister von 2002 und nun TV-Experte sagte, eine Neuaufnahme des Spielbetriebs solle mit "Verstand und Vorsicht" erfolgen.

Paulo Autuori, Trainer des Erstligisten Botafogo wurde deutlicher: "Es ist verrückt, von einer Rückkehr zu sprechen." Es zeuge von einem Mangel an Wissen der Verantwortlichen, diesen Wunsch zu äussern.

Und Virologe Amilcar Tanure von der Bundesuniversität in Rio de Janeiro sagte "Globo Esporte": "Auch wenn in leeren Stadien gespielt wird, müssen sie trainieren, in Umkleidekabinen und duschen. All das erhöht die Chance der Übertragung. Ich finde das höchst riskant."

Warum Fussball in Brasilien so wichtig ist

Fussball ist in Brasilien ein nationales Kulturgut, der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält und von so manchen schlechten Nachrichten aus der Politik abzulenken vermag. Während der ersten Wochen der Pandemie übertrugen TV-Sender Spiele aus der Konserve, um den zu Hause Isolierten ihre tägliche Dosis Fussball zu bieten.

Hinzu kommt, dass die wirtschaftliche Basis, auf der viele Klubs agieren, dünn ist. Die Rechnung ist einfach: keine Spiele, keine Einnahmen. Und ohne Einnahmen würde es auf Dauer für viele Klubs eng.

"Die Pandemie wird den lateinamerikanischen Fussball härter treffen als den europäischen", sagt Südamerikaexperte Tobias Käufer im Gespräch mit unserer Redaktion. Denn dadurch, dass die Zuschauerzahlen in den Stadien generell niedriger sind, kommt den Fernsehgeldern eine noch höhere Bedeutung zu.

"Ausserdem lebt der brasilianische, wie der gesamte lateinamerikanische Fussball vom Export", betont Käufer. Wenn die Spieler nicht im Schaufenster stehen, während in Europa die Transferphase läuft und der Kader der kommenden Saison zusammengestellt wird, ist das für die Klubs doppelt schlecht.

Mehrere Tausend brasilianische Kicker sollen weltweit in Profiligen aktiv sein. "Jeder denkt da immer gleich an Neymar Jr.", sagt Käufer. Aber sie kicken zum Teil auch in der dritten thailändischen Liga, in China oder Armenien.

Acht Klubs treten an Bolsonaro heran

Vor diesem Hintergrund ist auch zu verstehen, weshalb Vertreter von acht Klubs jüngst an Bolsonaro herantraten, um eine Änderung bei den Übertragungsrechten zu erwirken. Dazu müsste allerdings ein Gesetz geändert werden. Der Wunsch: Die Spiele der Liga nicht mehr im Paket, sondern einzeln vermarktbar zu machen. Der Klub Flamengo aus Rio de Janeiro liess am 1. Juli einen Testballon steigen.

Der TV-Sender Globo hatte für die Übertragung des Endspiels der Staatsmeisterschaft gegen Boavista 18 Millionen Real geboten, etwa drei Millionen Euro. Flamengo lehnte ab und streamte das Spiel über den vereinseigenen TV-Sender Fla TV.

Der Erfolg war gross: 2,2 Millionen Zuschauer verfolgten das Spiel, hinzu kamen Werbeeinnahmen. Würde diese Vermarktung zur Regel, würde die bisherige Exklusivität für einen Anbieter natürlich ausgehebelt.

"An der Einzelvermarktung haben immer nur die grossen Klubs Interesse", sagt Käufer. Grosse Klubs wie Flamengo, Corinthians und Grémio Porto Alegre könnten so mehr TV-Gelder generieren. Kleinere Klubs mit weniger Fans blieben dagegen auf der Strecke. "Damit wäre der Solidargedanke einer Liga natürlich aufgehoben", sagt Käufer.

Kritiker mutmassen unterdessen, dass Bolsonaro dem Vorstoss der Klubs aufgeschlossen gegenübersteht, weil sich ein solches Ansinnen gegen die Mediengrossmacht Globo richten würde. Das TV-Netzwerk macht ihm seit seinem Amtsantritt 2019 mit kritischer Berichterstattung das Leben schwer. Würde ein solcher Deal Globo schwächen, könnte das auch Bolsonaro entgegenkommen.

Risiko und straffes Programm statt Klubsterben

Soll es also nicht zu einem Klubsterben kommen, muss der Ball zwangsläufig wieder rollen - trotz Pandemie und auch wenn ein straffes Programm droht. Schon jetzt würde die Meisterschaftsrunde 2020 bis in den Februar 2021 hinein gespielt werden. Hinzu kommt der Liga-Pokal und die Qualifikation für die WM 2022 mit 18 Spieltagen plus Relegationsspiele – eine Menge Holz.

Selbst wenn alles glatt liefe mit Corona und den Hygienemassnahmen, müssten die brasilianischen Profis praktisch bis zur WM 2022 ohne grössere Pause durchspielen.

Über den Experten: Tobias Käufer stammt aus Mönchengladbach und lebt in Bogota in Kolumbien. Er ist freier Südamerikakorrespondent der Sportredaktion der "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Er schreibt ebenfalls für die "Welt" und die Nachrichtenagentur KNA.

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Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Tobias Käufer
  • Gazetadopovo.com.br: Die Rückkehr des Fussballs mitten in der Pandemie
  • Cbf.com.br: Mitteilung des Verbands CBF zur Wiedereröffnung
  • Globoesporte.globo.com: Klubs wollen andere Übertragungsrechte; Schon früh sprach sich Bolsonaro für die Wiederaufnahme des Spielbetriebs aus
  • Lance.com.br: Gouverneur Doria widerspricht Eröffnungswunsch
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