Im vergangenen Jahr sind sie fast abgestiegen, nun stehen sie kurz vor der Meisterschaft: Leicester City schreibt ein Märchen, das im Milliarden-Geschäft Fussball unmöglich scheint. Und doch scheint es Realität zu werden. Was steckt hinter dem Phänomen?

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Man stelle sich einmal folgendes Szenario vor: Der FC Augsburg, der den Klassenverbleib als Ziel ausgegeben hat, führt mit grossem Vorsprung die Fussball-Bundesliga an. Meisterschaftsfavorit FC Bayern München wurde in dessen Stadion souverän geschlagen und liegt bereits 13 Punkte zurück.

Auch Borussia Dortmund kann mit den übermächtigen Augsburgern nicht Schritt halten. Gibt es nicht? Gibt es doch! Aber eben nur in England.

Der Leicester City Football Club ist das momentan grösste Wunder im Welt-Fussball. Der Verein spielte bis zum Jahr 2008 noch in der 3. Liga. Der Aufstieg in die Premier League gelang erst 2014. Vergangene Spielzeit standen die "Foxes" kurz vor dem Abstieg, retteten sich nur ganz knapp.

Es ist kein Zufall, dass die Fans von Leicester City seit 2007 eine Fan-Freundschaft mit dem VfL Bochum pflegen. Der Verein aus der 331.000-Einwohner Stadt hatte viele Gemeinsamkeiten mit der "grauen Maus" des deutschen Fussballs: Keine Erfolge, die gleichen Vereinsfarben, zudem das Image einer Fahrstuhlmannschaft. Rauf und runter, immer wieder.

Leicester City war der Chaos-Klub

Wenn Leicester City in den Schlagzeilen stand, waren diese nicht positiv. Vergangenes Jahr wurde Trainer Nigel Pearson wegen eines Rassismus-Skandals entlassen. Für unerwünschte Aufmerksamkeit hatten auch drei Spieler gesorgt, von denen ein Sex-Tape an die Öffentlichkeit gelang.

Kurzum: Leicester City war der Chaos-Klub des englischen Fussballs.

Doch das ist Vergangenheit. Die Mannschaft von Trainer Claudio Ranieri marschiert mit grossen Schritten der ersten Meisterschaft entgegen. Vier Spieltage vor Saisonende beträgt der Vorsprung fünf Punkte auf Verfolger Tottenham Hotspur.

Ob nun Tottenham, Manchester City, der FC Chelsea oder der FC Liverpool - Leicester City hat fast alle Schwergewichte der Premier League bezwungen. Und das, obwohl der Etat umgerechnet "nur" 76 Millionen Euro betragen soll.

Zum Vergleich: Der amtierende Meister FC Chelsea soll in der vergangenen Saison ein Budget von rund 251 Millionen Euro zur Verfügung gehabt haben.

Vom Fast-Absteiger zum Meisterkandidaten

Es gibt keine logische Erklärung dafür, dass ein Fast-Absteiger plötzlich zum Meisterkandidaten wird, ohne dass sich der Kader gross verändert hat. Sicher ist aber, dass Trainer Ranieri, der erst im Sommer 2015 nach England kam, grossen Anteil daran hat. Das Erfolgsgeheimnis des Italieners: Er gibt der Mannschaft Freiheiten.

Im Interview mit dem "kicker"-Sportmagazin berichtet er, dass er in Gesprächen mit den Spielern deren Angst vor italienischen Taktikvorgaben gespürt habe.

"Also sagte ich den Jungs, dass ich ihnen vertraue und wenig von Taktik sprechen werde. Ich habe nur etwas modifiziert, Spieler auch auf andere Positionen gestellt und die Spielweise geändert."

Zudem schloss er mit der Mannschaft einen Pakt: Er versprach jede Woche zwei freie Tage, solange die Spieler alles geben. Es hat offenbar funktioniert.

Tatsache ist aber auch, dass solch ein Fussball-Wunder in England eher möglich ist als in Deutschland. Die Premier League ist ausgeglichener. Die grossen Vereine nehmen sich gegenseitig Punkte weg. Anders als in Deutschland, wo Bayern München nahezu unschlagbar ist.

Zum Vergleich: Nach 30 Spieltagen hatte Leicester City 63 Punkte auf dem Konto und führte mit fünf Zählern die Tabelle an. Diese Ausbeute würde in der Bundesliga nur für den dritten Tabellenplatz reichen. Bayern München hat nun 15 Punkte mehr und wäre damit selbst mathematisch uneinholbar.

Das zweitbeliebteste Team

Doch Leicester City spielt eben auf der Insel - und ist laut einer Umfrage bereits das zweitbeliebteste Team der englischen Fans. Was sagt Ranieri im "kicker" dazu? "Dass wir in einer Zeit, in der nur Geld zählt, den Leuten Hoffnung geben."

In Leicester werden die Fans nicht so ausgebeutet wie in anderen Städten. Laut einer Auflistung der BBC gibt es einen Sitzplatz im regulären Verkauf ab 30 Euro - es sind die günstigsten in der ganzen Liga. In England, wo viele Fans gegen die Wucher-Preise der grossen Vereine demonstrieren, wird das gerne gesehen.

Allerdings gab es in den vergangenen Tagen auch Negativschlagzeilen: Der Londoner Arzt Mark Bonar, der laut eigener Aussage Spitzensportler mit Dopingmitteln versorgte, hat unter anderem Leicester City als Kunde angegeben. Zudem besteht der Verdacht, die "Foxes" hätten gegen das Financial Fairplay verstossen.

Der Verein bestreitet die Vorwürfe allerdings. An der hohen Beliebtheit wird sich so schnell eh nichts ändern. Zu schön ist die Geschichte eines kleinen Vereins, der mit viel Einsatzwillen die reichen Konkurrenten in die Schranken weist.

Das letzte Heimspiel am 7. Mai gegen Everton, wo die Meisterschaft möglicherweise entschieden wird, ist längst ausverkauft. Die Schwarzmarktpreise gehen in den Himmel. Auf einer inoffiziellen Webseite wurden bereits zwei Karten für 15.000 Pfund (umgerechnet fast 18.816 Euro) angeboten.

Robert Huth als Erfolgsgarant

Mit Robert Huth ist auch ein Deutscher an dem englischen Fussball-Wunder beteiligt. Der 31-Jährige kam Anfang der Saison zu Leicester, nachdem er bei Stoke City von mehreren Verletzungen zurückgeworfen wurde. Nun zählt er zu den besten Innenverteidigern der Liga.

Ranieri bezeichnet ihn als einen harten Jungen mit einer grossen Persönlichkeit und Charakter, der der Mannschaft viel Selbstvertrauen gibt.

Stolze Wertsteigerungen

Auch zwei bekannte Gesichter aus der Bundesliga sind im Kader von Leicester City zu finden. Der Österreicher Christian Fuchs (Bochum, Mainz, Schalke) ist als Linksverteidiger gesetzt und vor allem für seine starken Flanken gefürchtet.

Auch der japanische Stürmer Shinji Okazaki (Stuttgart, Mainz) steht meist in der Startelf, wobei die Torausbeute mit fünf Treffern eher mittelmässig ist.

Fuchs führt den Erfolg seiner Mannschaft auf die Gemeinschaft zurück. "Wir haben ein grossartiges Team. Kein Team mit Stars, aber ein Team, das auf dem Platz geschlossen arbeitet. Das ist wichtiger als alles andere", sagt er im Interview mit der "Daily Mail".

Der phänomenale Aufstieg hat zu stolzen Wertsteigerungen der Spieler geführt. Ein Beispiel: Top-Scorer Jamie Vardy kam 2012 für 1,24 Millionen Euro und hat laut Transfermarkt.de nun einen Wert von 12 Millionen. Das dürfte auch den thailändischen Klub-Besitzer Vichai Srivaddhanaprabha freuen.

Der Milliardär hat Leicester City im Jahr 2010 für 40 Millionen Pfund gekauft. Würde er den Verein heute zum Verkauf anbieten, könnte er wohl rund 300 Millionen aufrufen.

Doch wer will solch ein Fussball-Märchen schon verkaufen?

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