Aus seiner Zeit in der Bundesliga ist Roger Schmidt noch als exzellenter Trainer, aber auch schwieriger Charakter bekannt. In den vergangenen Jahren hat er den Weg ins Ausland eingeschlagen und sorgt in dieser Saison bei Benfica Lissabon für Furore. Den stolzen Klub hat er in Windeseile erobert und jetzt den Titel geholt. Wie hat der 56-Jährige das geschafft?

Ein Porträt
Dieser Text enthält neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Reiners sowie ggf. von Expertinnen oder Experten. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Roger Schmidt wollte partout nicht. Er weigerte sich, bockte wie ein kleines Kind. Es war ein unfassbares Bild an diesem 21. Februar 2016: Schmidt, damals Trainer von Bayer Leverkusen, ging nicht auf die Tribüne, obwohl er von Schiedsrichter Felix Zwayer des Innenraums verwiesen wurde. Für neun Minuten wurde das Spiel gegen Borussia Dortmund unterbrochen, ehe Schmidt der Anweisung Folge leistete. Da war aber eh schon alles verloren, denn mit der Szene hatte sich das Bild von Schmidt endgültig verfestigt: ein exzellenter Trainer, aber charakterlich speziell und nicht immer einfach.

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Im Oktober 2016 bestätigte er diesen Eindruck, als er im Spiel gegen Hoffenheim mit dem damaligen TSG-Trainer Julian Nagelsmann verbal aneinandergeriet – Schmidt wurde für zwei Spiele gesperrt. Nach seiner Entlassung in Leverkusen im März 2017 kehrte er der Bundesliga den Rücken und entwickelte sich im Ausland weiter, charakterlich und sportlich. Erst in China bei Beijing Guoan (2017 bis 2019, ein Mal Pokalsieger), dann bei der PSV Eindhoven (2020 bis 2022, ein Mal Pokalsieger) in den Niederlanden und seit dem vergangenen Sommer bei Benfica Lissabon. Dort ist der 56-Jährige inzwischen "O grande Schmidt – der grosse Schmidt". In Rekordzeit hat er den stolzen Traditionsklub und die Stadt erobert, die Wertschätzung ist enorm. Das bekam er am vergangenen Wochenende mit voller Wucht zu spüren, nach dem Gewinn der Meisterschaft.

Da stand der 56-Jährige komplett überwältigt auf dem Marques de Pombal. Es ist einer der zentralsten Plätze in Lissabon, auf dem Zehntausende Fans ihm zu Füssen lagen, seinen Namen skandierten und ihn mit ihrer Zuneigung sprachlos machten. Es ist der 38. Titel in der Vereinsgeschichte, es ist aber ein enorm wichtiger, denn er wurde nach einer für Benfica-Verhältnisse gefühlten Ewigkeit geholt, denn es ist die erste Meisterschaft seit 2019. "So etwas habe ich noch nie gesehen. Es war einzigartig, eine der grössten Partys im europäischen Fussball", sagte Schmidt am Tag nach den Feierlichkeiten in einer Medienrunde. "Wir haben die Pflicht, den Fans Freude zu bereiten, und wir versuchen immer, ihnen die Unterstützung zurückzugeben, die sie uns geben. Es war ein aussergewöhnlicher Tag."

Ein aussergewöhnliches Jahr für Roger Schmidt

Für Schmidt war es ein aussergewöhnliches Jahr, seit er im vergangenen Sommer bei Benfica anfing. International sorgte er mit seiner Mannschaft für Aufsehen, in der Champions League gelang der Einzug in die K.o.-Runde in einer Gruppe mit Paris Saint-Germain (zwei Mal 1:1) und Juventus Turin (2:1 und 4:3), und das als Gruppensieger. Im Achtelfinale wurde der FC Brügge mit 2:0 und 5:1 regelrecht demontiert. Erst im Viertelfinale war gegen den Finalisten Inter Mailand Schluss.

Das Aus im April war gleichbedeutend mit der einzigen Schwächephase, die sich seine Mannschaft leistete. Erst eine Liga-Pleite gegen den grossen Rivalen FC Porto, dann die Niederlage im Hinspiel gegen Inter, dann ein erneuter Rückschlag in Chaves, gefolgt vom 3:3 und dem Aus in Mailand. "Das war die schlimmste Phase der Saison", sagt Schmidt, denn der Zehn-Punkte-Vorsprung auf Porto war auf vier Zähler zusammengeschmolzen. "Wir waren auf einem hohen Niveau und sind ein bisschen abgestürzt, mit einigen körperlichen Problemen bei den Spielern", so Schmidt. Doch Benfica liess sich nicht aus der Ruhe bringen. "Am Ende haben wir gezeigt, dass wir wissen, wie man unter Druck spielt. Wir haben es verdient, Meister zu werden."

Roger Schmidt: "Ich fühle mich am richtigen Ort"

Schon zuvor hatte er sich selbst einen neuen Vertrag verdient, sein ursprünglich bis 2024 laufender Kontrakt wurde Ende März vorzeitig bis 2026 verlängert. Dabei wurde die Ausstiegsklausel angepasst: 30 (!) Millionen Euro muss nun ein Klub zahlen, der Schmidt aus dem Vertrag loseisen will. Und das nach gerade mal neun Monaten Zusammenarbeit. Auch Schmidt sagt: "Ich fühle mich am richtigen Ort."

Doch wie kommt es, dass der in Deutschland ein wenig in Vergessenheit geratene Schmidt in Portugal so durchstartet und gefeiert wird? Weil er Benfica nicht nur den Erfolg zurückbrachte, sondern auch schönen Fussball. Benfica praktiziert unter Schmidt ein aggressives Gegenpressing und ein schnelles Umschaltspiel. Das Team ist auf Tempo-Fussball getrimmt, offensiv eingestellt und dabei unerbittlich bei der Balleroberung. Wenn man Benfica lässt, geht mit dem Ball die Post ab.

Unbeschriebenes Blatt auch für Teile der Mannschaft

Sein eigenes Erfolgsrezept? "In den letzten Jahren habe ich gelernt, nicht zu weit in die Zukunft zu schauen, sondern an das Hier und Jetzt zu denken", sagt er und bringt es auf den Punkt: "Diese Saison wurde von Tag zu Tag gemacht." Schmidt fand eine lernwillige Mannschaft vor, im Laufe der Saison eine gute Balance und grundsätzlich einen Klub, der den Erfolg mit aller Macht wollte. Die Red-Bull-Vergangenheit Schmidts ist immer noch sehr deutlich zu erkennen. Er hat seine Handschrift nicht gross verändert, sondern auf hohem Niveau verfeinert, wodurch Benfica in vielen Momenten unberechenbar war, dazu im eigenen Spiel flexibel. Das Team wollte stets den Ton angeben, den Rhythmus bestimmen. Gelang das, war die Mannschaft nur schwer zu stoppen und unangenehm zu bespielen. Für diese Art, Fussball zu spielen, brauchte die Mannschaft vor allem Überzeugung, die Schmidt erfolgreich vermittelte. Ein weiteres Erfolgsrezept: Die ganze Saison über habe man von Spiel zu Spiel gedacht, betont Schmidt.

Was ihm zunächst Skepsis einbrachte, war vielleicht auch ein Vorteil: Für viele war er ein unbeschriebenes Blatt, selbst für Teile der eigenen Mannschaft. Weltmeister Nicolas Otamendi gab zu, dass er Schmidt vorher gar nicht kannte. "Er ist ein Trainer mit sehr klaren Vorstellungen, der seine ganz eigene Persönlichkeit hat und es meisterhaft versteht, seinen Spielern Selbstvertrauen zu vermitteln", sagte der Argentinier uefa.com.

Schmidts Vergangenheit fliesst mit ein

Schmidt lässt bei seiner Arbeit sogar seine Vergangenheit als Ingenieur mit einfliessen, denn "die Idee, an Projekten zu arbeiten und als Team zusammenzuarbeiten, um diese Projekte abzuschliessen und zum Laufen zu bringen, ist dem Fussball sehr ähnlich", sagte er im Interview der Uefa. Nach dem Maschinenbau-Studium, das er noch als mittelmässig erfolgreicher Aktiver abschloss, hatte er acht Jahre lang in dem Job gearbeitet. Und stand irgendwann vor der Entscheidung, ob er Vollzeittrainer werden oder Ingenieur mit dem Hobby Fussballcoach, der er erstmals von 2004 bis 2007 beim Delbrücker SC war, bleiben will. Er entschied sich für die Trainerlaufbahn, holte sich 2011 die Lizenz und schaffte 2014 bei RB Salzburg als Meister und Pokalsieger den Durchbruch, ehe er nach Leverkusen ging.

Der Ex-Ingenieur ist knapp zehn Jahre später in Lissabon der Baumeister des Erfolgs, und auf dem Erfolg will und kann er sich auch gar nicht ausruhen. Benfica ist ein Ausbildungsverein, Top-Talente zieht es eher früher als später weiter. Mittelfeldmann Enzo Fernandez war im Winter weg, Linksverteidiger Alejandro Grimaldo, der Benficas bester Vorlagengeber war, geht zu Bayer Leverkusen. Top-Torjäger Goncalo Ramos, Innenverteidiger Antonio Silva oder Mittelfeldjuwel Joao Neves stehen bei vielen Top-Klubs auf dem Zettel. Schmidt weiss, dass er so oder so mal wieder umbauen muss. "Wir sprechen die ganze Saison über den Kader und wie wir ihn verbessern können, man muss ein Gleichgewicht finden. Wir müssen versuchen, unsere Startelf zu verbessern, da wir zu Beginn der Saison wieder alle drei Tage spielen werden, und wir müssen bereit sein", sagte Schmidt. Er geht die Sache gelassen an.

Immer noch emotional

Manchmal ist er aber noch so emotional wie früher. Als er im Februar bei einem Ligaspiel nach einem 2:0-Sieg beim FC Vizela aus dem Publikum mit einer Wasserflasche beworfen wurde, die ihn nur haarscharf verfehlte, warf er die Flasche kurzerhand zurück. Er sah Rot, gestikulierte wild und provozierte das Publikum bei seinem Abgang noch damit, indem er mit den Fingern das Ergebnis anzeigte. Er wurde für ein Spiel gesperrt. "Ich habe auf den Spott der Fans reagiert, die hinter mir waren. Das ist nicht erlaubt und ich akzeptiere die Rote Karte", sagte er. Der Platzverweis ist diesmal aber nur eine Episode, Schmidt wird bei Benfica auch für seine sonst so besonnene, fast stoische Art in der Coaching Zone geschätzt. Denn "O grande Schmidt" hat nicht nur seinen sportlichen Ansatz verfeinert.

Verwendete Quellen:

  • uefa.com: Benfica-Trainer Roger Schmidt über die Champions League, seine Arbeit als Ingenieur und Sprachbarrieren
  • abola.pt: Roger Schmidt no pós-título: Resposta a Conceição, um desejo por Otamendi e o balanço da época
  • uefa.com: Nicolás Otamendi über den WM-Triumph und seinen Traum mit Benfica
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