In Katar fand vor einem Jahr eine der umstrittensten Weltmeisterschaften statt. Die FIFA feierte sie als "beste WM aller Zeiten", dazu als klimaneutrales Turnier. Im Fokus standen die Gastgeber aber vor allem wegen diverser Menschenrechtsverletzungen und wegen der Vorwürfe des "Sportswashing". Wie ist die Situation in Katar ein Jahr nach der WM?
Eine wirkliche Überraschung sind die Zahlen nicht. Knapp ein Jahr nach der WM im eigenen Land belegt Katar Platz 61 in der FIFA-Weltrangliste, ist also elf Plätze schlechter als unmittelbar vor dem Turnier. Seit dem sang- und klanglosen Aus als schwächster WM-Gastgeber der Geschichte mit drei Niederlagen absolvierten die Katari 16 Länderspiele, von denen sie fünf gewannen, darunter ein überraschendes 1:0 gegen Mexiko beim Gold Cup, wo im Sommer im Viertelfinale Endstation war. In die Qualifikation zur WM 2026 startete Katar jüngst mit zwei Siegen – gegen Afghanistan und Indien. Nationaltrainer ist mit dem Portugiesen Carlos Queiroz eine bekannte Grösse, die Erfolge bleiben aber überschaubar.
"Katar ist nicht zur grossen Fussballnation geworden. Das war auch nicht zu erwarten", sagt Sportpolitik-Experte Jürgen Mittag im Gespräch mit unserer Redaktion. Das gilt auch für die heimische Qatar Stars-Liga. "Wir sehen dort nach wie vor sehr überschaubare Zuschauerzahlen", so Mittag. Deshalb werden einige der für die WM neu errichteten Stadien nicht mehr benötigt und sollen zurückgebaut werden. Aus dem Container-Stadion 974 soll zum Beispiel ein grösserer Park werden. Teilweise wird eine Nachnutzung in die Wege geleitet oder wurde bereits durchgeführt, indem Shoppingcenter oder Sternehotels in die Oberränge gebaut wurden. "Der Rückbau war von vornherein schon vorgesehen, weil die Stadien in der Grössenordnung nicht gebraucht werden für den katarischen Fussball, aber es ist aktuell nicht bei allen klar, was aus ihnen wird, da auch Spenden an Entwicklungsländer in Aussicht gestellt wurden", so Mittag.
Ansonsten sei die Situation relativ ähnlich zu der Lage vor der WM, "wenn es um die rein sportliche, fussballbezogene Perspektive geht", erklärt Mittag. Der Fussball hat nicht den Stellenwert wie in Europa und stellt weiterhin mehr oder weniger eine Randerscheinung dar. Doch das ist zugegebenermassen zu vernachlässigen, da das Turnier vor einem Jahr Diskussionen auslöste, bei denen der Fussball in Katar im wahrsten Sinne des Wortes nur eine Nebenrolle spielte.
Der Vorwurf "Sportswashing" bleibt
Stattdessen standen ständige Menschenrechtsverletzungen im Fokus, ein problematischer Umgang mit Meinungs- und Pressefreiheit, mit Diversität und Gleichberechtigung oder mit den unzähligen Gastarbeitern, die auch für die WM – da vor allem beim Neubau der zahlreichen Stadien – ausgebeutet wurden. Das Turnier hat den riesigen Scheinwerfer des WM-Interesses auf ein Land geworfen, das den Vorwurf des "Sportswashing" bis heute nicht widerlegen kann und sich auch in anderen Fragen seit der WM nur mässig bewegt, wenn überhaupt. Aber: Immerhin hat sich das Emirat bewegt.
Deshalb will Mittag keine komplett negative Bilanz ziehen. Denn die WM hatte vor allem im Vorfeld für Verbesserungen in vielen Bereichen gesorgt, auch wenn das Emirat nicht plötzlich komplett weltoffen, modern oder tolerant geworden ist. So hatte sich Katar bei der WM zwar zeigen wollen, entlarvte sich dabei aber oft selbst. "Die soziale Situation im Land ist seit dem Ende des Turniers weder besser noch schlechter geworden, sondern eigentlich haben die vier, fünf Jahre vor der WM zu erheblichen Verbesserungen geführt. Der Blick der Welt, der auf Katar gerichtet war, und viele, die vor Ort waren, haben dazu beigetragen, dass sich schon vor der WM viele Dinge verbessert haben. Seitdem bleibt dieses Level in etwa erhalten", sagt Mittag.
Kritik von Amnesty International
Hier kommt es wie so oft auf den Blickwinkel an, ob ein erreichter Zustand, der sich nicht verschlechtert, als Erfolg zu werten ist. Amnesty International sieht die aktuelle Lage im Briefing "A Legacy in Jeopardy" kritisch, denn das zeige, dass die Arbeitnehmerrechte in Katar seit dem WM-Ende kaum verbessert wurden, teilte die Menschenrechtsorganisation mit. Stillstand als Rückschritt also. So bleiben zum Beispiel die Entschädigungen für Arbeiter, die im Zusammenhang mit der WM Menschenrechtsverstösse erlitten haben, aus. "Begrenzte Fortschritte in den Bereichen Hitzeschutz und Ausreise werden überschattet durch Missstände in den Bereichen illegale Anwerbegebühren, Lohndiebstahl und Arbeitsplatzwechsel", so Amnesty weiter.
"Katar versäumt es, seine vor der Fussballweltmeisterschaft eingeführten Arbeitsreformen voranzutreiben oder auch nur ordnungsgemäss durchzusetzen. Das ist nicht das positive Erbe, das die katarische Regierung den Arbeitsmigranten mit der WM versprochen hatte", sagte Katja Müller-Fahlbusch, Expertin für die Region Naher Osten und Nordafrika bei Amnesty International in Deutschland: "Wir fordern die Regierung dringend auf, den Schutz von Arbeitnehmerrechten zu verbessern – vor allem im Hinblick auf illegale Anwerbegebühren, Lohndiebstahl und Arbeitsplatzwechsel." Ausserdem sollen sich die FIFA und Katar auf konkrete Fahrpläne zur angemessenen Entschädigung für alle Betroffenen von Rechtsverstössen einigen, so Müller-Fahlbusch: "Entschädigungen dürfen nicht weiter verweigert oder verzögert werden." Eine Lösung ist in der Frage aber nicht in Sicht.
Mittag sieht vor allem im sozialen Bereich Katars Handlungsbedarf, denn der sei der problematischste, "und da geht es nach wie vor um die Privathaushalte" so Mittag. Diese stellen nach wie vor Gastarbeiter aus Ostasien ein, die unter schwierigen Rahmenbedingungen mit Ausbeutung oder Gewalt konfrontiert werden. "Dieser Sektor ist aber relativ schwierig zu kontrollieren oder zu regulieren", so Mittag.
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Für Katar ein Erfolg
Insgesamt sei die WM für Katar "sicherlich als Erfolg zu werten", betont Mittag: "Das Land konnte die WM durchführen, sich selbst präsentieren und konnte, was auch nicht aussen vor bleiben darf, die Beziehung zu den Nachbarländern stabilisieren oder sogar verbessern." Was die restliche Welt betreffe, komme es erneut auf die Perspektive an, so der Experte von der Sporthochschule Köln. "Für wahrscheinlich 70 bis 80 Prozent der globalen Weltbevölkerung war diese WM auch ein Erfolg, weil es ein spannendes Fussballturnier war, an dem die Menschen ihre Freude gehabt haben."
Ambivalent war es vor allem aus europäischer Sicht, "weil die moralischen Ansprüche der Gastgeber nicht mit den europäischen Ansprüchen an Werten und Menschrechtsstandards einhergegangen sind". Deshalb gilt es laut Mittag zu relativieren: "Die Anzahl der Staaten, die im Nachhinein richtig kritisch gewesen sind, war überschaubar. Deshalb kann es im Rückblick keine übergeordnete, eindimensionale Sichtweise auf die WM geben", so der Experte. Der noch nicht vollständig aufgearbeitete Korruptionsskandal im Europäischen Parlament, bei dem mutmasslich mehrere sozialdemokratische Abgeordnete finanzielle Zuwendungen aus Katar für ihr Abstimmungsverhalten erhielten, deute aber an, so Mittag, dass Katars WM-Strategie noch umfassender aufzuarbeiten sei.
Eindeutiger ist hingegen die Frage, wie nachhaltig das Turnier war. Dass im Sommer eine Kommission zu dem Ergebnis kam, dass die FIFA fälschlicherweise damit geworben hat, dass die WM klimaneutral war, überrascht Mittag nicht. "Natürlich kann man sich die Zahlen zurechtbiegen, wenn man betont, was zum Ausgleich neu angepflanzt worden und was an Abgaben bezahlt worden ist. Aber auf der anderen Seite ist es im Zuge dieser WM zu erheblichen Mobilitätsemissionen gekommen", sagt Mittag. Da werde manches grün gewaschen, was dann doch nicht so grün gewesen sei, so Mittag: "Eine definitive Klimabilanz zu ziehen, ist immer mit viel Kosmetik verbunden. Katar war sicherlich keine klimaneutrale oder besonders nachhaltige WM. Das geben allein schon die Rahmenbedingungen mit Reisen aus den Nachbarländern nicht her."
Katar und die Zukunft: Wie geht es weiter?
Bleibt die Frage: Wie geht es weiter? "Die sozialen Bedingungen werden sich nicht erkennbar verändern", so Mittag. Daneben wird Katar die eigene, übergreifende Transformationsstrategie, bei der der Sport neben Wissenschaft, Kultur und Tourismus ein essenzieller Baustein ist, aber weiter intensiv vorantreiben. Heisst: Das Ausrichten von Sportgrossereignissen war schon vor der WM ein wichtiges Ziel für den Wüstenstaat, und diese Strategie wird auch nach der WM nochmal mit verstärkter Intensität verfolgt.
Denn die WM hat gezeigt, dass für viele Menschen am Ende dann doch der Sport im Vordergrund steht, und es keinen nachhaltigen, kritischen Aufschrei der Allgemeinheit gibt. Es sind vor allem Organisationen wie Amnesty oder die Internationale Arbeitsorganisation ILO, die einen genaueren Blick auf die Zustände vor Ort werfen und notfalls den Finger in die Wunde legen. Die WM ist nicht das erste Grossereignis, nach dem sich die allgemeine Empörung so schnell gelegt hat, wie sie aufgekommen ist.
Die nächsten Grossereignisse warten schon
Doch die nächsten Grossereignisse in Katar warten schon. "Was gegenwärtig ein ganz grosses Thema ist, ist die Debatte um die Olympischen Spiele 2036, auf die sich Katar als einziges arabisches Land sehr stark konzentriert", so Mittag. Denn die arabischen Staaten seien nicht per se diskreditiert, betont der Experte, sondern gehen neue Bewerbungen "vielleicht sogar mit neuen Chancen an". Und dabei ist es weiterhin egal, welchen Stellenwert der betreffende Sport in Katar geniesst. Daran ändern auch die mageren Zahlen der "Fussballnation" Katar nichts.
Über den Gesprächspartner
- Jürgen Mittag ist als Professor für Sportpolitik an der Deutschen Sporthochschule Köln tätig. Das Institut des 52-Jährigen trägt den Titel eines Jean Monnet-Lehrstuhls und zielt damit auf ein besseres Verständnis der Europäischen Union ab, indem verstärkt europäische Themen vergleichend in Forschung und Lehre untersucht werden.
Verwendete Quellen:
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