Der Rücktritt von Sandro Wagner aus der Nationalmannschaft hallt weiter nach, dennoch sollte der Stürmer nach vorne schauen, schliesslich muss der FC Bayern noch ein Pokalfinale bestreiten. Thomas Baschab, der unter anderem Sven Ulreich als Mentaltrainer betreut, weiss genau, mit welchen Schwierigkeiten Wagner und sein Team nun zu kämpfen haben.

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Sandro Wagner hat sich mit einem grösstmöglichen Knall aus der Nationalmannschaft verabschiedet. Sein Rücktritt ist noch in aller Munde, dabei muss sich der FC Bayern eigentlich auf das Pokalfinale gegen Eintracht Frankfurt (Samstag, 20:00 Uhr, LIVE bei uns im Ticker) konzentrieren.

Thomas Baschab ist Mentaltrainer und arbeitet häufig mit Sportlern in schwierigen Situationen zusammen. Im Exklusiv-Interview mit unserem Portal verrät er, was in solchen Momenten in Spielern vorgeht und mit welcher Schwierigkeit sich der FC Bayern herumschlagen muss.

Sandro Wagner hat nach der Enttäuschung über die Nicht-Nominierung seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft erklärt. Wie schätzen Sie als Mentaltrainer diese Reaktion ein?

Thomas Baschab: Das war sicherlich eine Reaktion aus der Enttäuschung heraus. Er hatte bestimmt sicher damit gerechnet, dabei zu sein. Wenn sich so eine Erwartung nicht erfüllt, dann ist eine solche Reaktion völlig verständlich.

Jetzt schimpfen zwar einige auf seinen Rücktritt, aber mein Gott, wenn so ein Lebenstraum platzt, dann ist das natürlich hart. Sie müssen sich vorstellen, eine WM zu spielen, das ist für jeden Spieler ein absoluter Höhepunkt der Karriere und für Sandro Wagner war es die letzte Chance. Der Mann ist immerhin 30 Jahre alt. Das muss man verstehen. Und dass er da gerade nicht fröhlich sein kann, ist doch völlig klar.

Einer Ihrer Grundsätze lautet, man muss sein Ziel vor Augen haben und dieses Ziel muss konkret formulierbar sein. Nun hat Sandro Wagner vor seinem Wechsel zum FC Bayern sein Ziel sehr konkret formuliert: Er wollte mit der Nationalmannschaft zur WM fahren. Er hat dieses Ziel nicht erreicht, was raten Sie in so einer Situation? Wie kann man mit so einem Spieler als Mentaltrainer arbeiten?

Natürlich ist es völlig in Ordnung, erst einmal frustriert zu sein. Und am selben Tag zu versuchen, diese Frustration aufzuheben, das wäre Unfug.

Manchmal, wenn solche Träume platzen, muss man einfach eine Weile dran knabbern. Das ist wie Trauer. Man muss das verarbeiten und das dauert eine Weile.

Und dann ist der nächste Schritt, dass man in der Lage ist, das, was einem da geschieht, anzunehmen. Als Sportler lernt man, dass man nicht jedes Ziel erreichen kann. Es kann mal besser laufen und mal schlechter. Nicht jeder Sportler kann immer seine Ziele erreichen.

Im Fall von Sandro Wagner ist das Erreichen des Ziels auch noch abhängig von einer anderen Person. Man wird entweder nominiert, oder nicht. Man muss als Sportler lernen, mit solchen Niederlagen umzugehen. Und das macht letztendlich auch die Qualität eines Sportlers aus.

Wenn ich jetzt einen Menschen nach so einem Erlebnis coachen würde, würde ich sagen: Was kannst du jetzt aus dieser Situation lernen? Was hilft es dir? Was kannst du mitnehmen?

Aus Niederlagen kann man manchmal viel mehr mitnehmen als aus Siegen. Denn gut drauf zu sein, wenn es gut läuft, das kann jeder Depp. Aber gut drauf zu sein, wenn es nicht gut läuft, da zeigt sich tatsächlich die wahre Stärke und Persönlichkeit.

Das muss Jupp Heynckes jetzt leisten

Je früher der FC Bayern Meister wird, desto früher wird auch immer darüber spekuliert, ob bei den Spielern im Saisonendspurt langsam die Luft raus ist. Nun haben die Bayern noch das DFB-Pokalfinale vor der Brust, einige fahren zudem zur WM. Wie können Spieler verhindern, dass tatsächlich irgendwann der Akku leer ist – gerade dann, wenn es um die wichtigen Spiele geht?

Man kann in bestimmten Phasen diesen Punkt, an dem der Akku leer geht, herauszögern. Ich nenne das den Marathon-Effekt: Stellen Sie sich vor, Sie laufen einen Marathon und nach 42,195 Kilometern frage ich Sie, ob sie jetzt noch fünf weitere Kilometer laufen wollen. Dann sagen Sie ziemlich sicher nein. Aber wenn ich Ihnen die fünf Kilometer so in die Strecke reinbastle, dass Sie es nicht merken, dann laufen sie 47,195 Kilometer und sind eben dann platt.

Das heisst, wir kommen eigentlich nicht körperlich ins Ziel, sondern nur mental. Aber wenn wir dann mental im Ziel sind, dann stürzen unsere Energiesysteme ab, z. B. auch unser Immunsystem.

So müssen Sie sich das auch beim FC Bayern vorstellen. Wenn die Bayern Meister werden, dann fährt das Energiesystem schon mal ein bisschen runter, weil sie dann ein Ziel erreicht haben. Das weiss Trainer Jupp Heynckes natürlich und versucht deshalb, die Spannung hochzuhalten, indem er sagt: 'Wir geben in jedem Spiel Vollgas'.

Das Ausscheiden aus der Champions League war zwar keine echte Zielerreichung, aber auch die Beendigung eines Zyklus - und wieder fahren die Energiesysteme runter. Und daher kommt es auch, dass sie am letzten Spieltag gegen den VfB Stuttgart eins auf die Ohren bekommen haben. Das wäre im Februar unter Garantie nicht passiert.

Die Kunst ist es jetzt, die Spannung vor dem DFB-Pokalfinale wiederherzustellen. Einfach wird das nicht. Das Spiel wird für die Bayern schwieriger, als man das wahrscheinlich annehmen würde.

Würde Bayern nächste Woche noch das Champions-League-Finale spielen, wäre es definitiv leichter gewesen.

Wo liegen die grössten Gefahren, wenn ein Spieler mit dem Kopf nicht mehr ganz bei der Sache ist? Wie sieht es zum Beispiel mit Verletzungsanfälligkeit aus?

Stellen Sie sich vor, Sie haben optimale Körperspannung. Sobald die Spannung abfällt, wird sich die muskuläre Kontrolle verändern, sie werden verletzungsanfälliger.

Das gilt auch, wenn sie zu viel Spannung haben, wenn sie unter Druck stehen, weil sich dann die optimale Körperspannung nach oben verändert.

Man macht mehr Fehler, denn nur in der optimalen Körperspannung haben Sie die optimale Körperkontrolle.

"Ulreich hat den Patzer längst verarbeitet"

Sie arbeiten auch mit Sven Ulreich zusammen. Hat er sich von seinem folgenschweren Patzer im Champions-League-Halbfinale erholt? Kann man verhindern, dass er diese Situation auch im Pokalfinale im Hinterkopf hat?

Das ist längst verarbeitet. Als Torhüter muss man einfach lernen, mit Fehlern umzugehen. Bei Sven Ulreich war das jetzt natürlich dummerweise ein Fehler, bei dem viele Menschen zugeschaut haben und es war natürlich in einem wichtigen Spiel. Aber man kann sich leider nicht aussuchen, wann man Fehler macht. Er hätte diesen Fehler auch lieber gegen den 1. FC Köln gemacht, aber das Leben ist nun einmal kein Wunschkonzert.

Und Sven ist damit sehr gut umgegangen, hat diesen Fehler eingeräumt, hat ihn nicht wegdiskutieren wollen, hat dazu gestanden. Und hat gesagt: 'Ich mache jetzt weiter. Ich verliere deswegen nicht, was ich mir jetzt ein Jahr lang aufgebaut habe und ich mache mir das damit nicht kaputt.'

Natürlich bleibt so eine Situation ein bisschen hängen, aber das wird nicht dazu führen, dass er jetzt weitere Fehler macht.

Der Druck bei einer Weltmeisterschaft ist für Spieler schier unmenschlich, das hat Per Mertesacker in einem viel zitierten Interview unlängst erklärt. Gibt es Strategien, die Sie als Mentaltrainer Spielern an die Hand geben können, um mit dieser Erwartungshaltung von aussen fertig zu werden?

Selbstverständlich. Wenn es die nicht gäbe, bräuchte es auch keine Mentaltrainer.

Erstmal ist es immer wichtig, diese Situationen anzunehmen, und auch den Druck anzunehmen. Das heisst, sich einfach darüber bewusst zu werden, dass der Druck da ist und dass er gewürdigt werden will und man mit ihm umgehen muss.

Dann gibt es natürlich Techniken und Methoden, diesen Druck zu bearbeiten. Und dann löst sich das Ganze und man kommt wieder in seine Leistungsfähigkeit.

Mesut Özil und Ilkay Gündogan sind von den Reaktionen auf ihren Besuch beim türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan offenkundig ziemlich überrannt worden. Kann es nun sein, dass sich diese Art von Stress – wie sie von den klassischen und sozialen Medien erzeugt wird – auch in der Leistung der beiden niederschlägt?

Alles, was in unserem Leben Unruhe schafft, kann sich natürlich auf die Leistung auswirken, muss es aber nicht. Wie das jetzt bei Özil und Gündogan ist, kann ich nicht sagen, denn ich kenne die beiden nicht.

Aber ich glaube, dass sich die zwei nicht ansatzweise bewusst waren, was da an Reaktionen nun passiert ist. Das war sicher keine gezielte Aktion zu irgendwessen Gunsten, ich glaube eher, dass es eine Unachtsamkeit war. Und da muss man auch mal die Kirche im Dorf lassen und keinen Staatsakt daraus machen.

Ich denke, wenn die beiden mal wieder in eine solche Situation kommen, werden sie vielleicht genauer überlegen und es dann lieber sein lassen.

Brauchen die Sportler in Zeiten von Social Media neue Werkzeuge zur Stressbewältigung?

Das braucht es natürlich. In der heutigen Zeit muss man über mehr Dinge Bescheid wissen. Und wenn man dann solche Reaktionen zu spüren bekommen, muss man auch mehr in der Lage sein, damit umzugehen. Das gilt aber nicht nur für die sozialen Medien.

Heute wird alles in Super-Zeitlupe seziert. Vor 40 Jahren stand in der Zeitung, was passiert ist. Und wenn einer beim Fussballspiel Nase gebohrt hat, dann hat das niemanden interessiert, weil es keiner mitgekriegt hat.

Heute stehen die Sportler extrem auf dem Präsentierteller und es wird alles genau angeschaut. Das wissen die Jungs natürlich.

Man muss einfach wissen, wenn ich da bin - und es ist ja auch nicht so schlecht, da zu sein und man hat ja auch was davon - dann ist das einfach ein Teil der Story. Und man muss lernen, damit umzugehen.

Was glauben Sie denn, ein Sven Ulreich, wenn der so eine Geschichte hat: Das ist eine Aktion, die auf der ganzen Welt in der Zeitung steht, die jeder Fernsehsender ausstrahlt. Das haben vielleicht eine Milliarde Leute gesehen. Den guten und vernünftigen Umgang damit, muss man lernen.

Wird Deutschland Weltmeister?

(lacht) Wollen Sie meinen Wunsch hören?

Sie dürfen einen Wunsch äussern, aber gerne auch eine Expertenmeinung abgeben.

Dann mach ich doch beides. Mein Wunsch als Mensch und Privatmann und Fussballinteressierter ist natürlich, dass wir Weltmeister werden. Aber dazu muss verdammt viel zusammenkommen.

Wir sind immer bei den Favoriten mit dabei und typischerweise sind wir auch bei den Weltmeisterschaften ziemlich gut. Ich würde also auch hier prognostizieren: Wir werden gut und erfolgreich spielen und weit kommen. Aber wenn wir Weltmeister werden wollen, müssen halt viele Faktoren zusammenkommen. Und das passiert eben mal besser und mal schlechter.

Thomas Baschab gehört zu Deutschlands bekanntesten Mentaltrainern. Zu seinen Klienten gehören Sportler wie Bayern-Torhüter Sven Ulreich, Ski-Ass Felix Neureuther, oder Holger Badstuber vom VfB Stuttgart.

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