Es gibt im Leben einige Entscheidungen, die man nicht nur sehr schnell bereut, sondern auch lange. Die betrunkene SMS an den Ex. Das Tattoo mit dem Namen von eben jenem Ex am Unterarm. Oder die Einwechslung von drei Spielern extra fürs Elfmeterschiessen, die dann alle vergeben – nennen wir dieses Szenario mal "englische Entscheidung".
Ich habe mich vor so ziemlich genau drei Jahren entschieden, keinen Profifussball mehr zu schauen. Nach rund einem Vierteljahrhundert als Fan und fünf Jahren als Sportjournalist. So schwer es mir damals fiel, es ist das genaue Gegenteil einer "englischen Entscheidung": Alle paar Wochen gratuliere ich mir selbst – immer dann, wenn der moderne Fussball mal wieder demonstriert, wie kaputt er ist.
Lionel Messi zu Paris St. Germain? Der VAR hat mal wieder falsch gelegen? Zur WM treten bald 48 Teams an? Was früher meinen Puls in ungesunde Höhen getrieben hätte, löst heute nur noch ein müdes Kopfschütteln aus. Nur eine Frage lässt mich nicht los: Warum lassen sich echte Fussballfans diesen Quatsch noch bieten?
Hier stimmt doch was nicht
Wer den Fussball liebt, muss den real existierenden Fussball hassen. Die Transfers für Fantasiesummen. Die 1.000 ganz legalen Steuertricks auf zwei Beinen. Die Klubs in Investorenhand, als nette Ergänzung fürs Portfolio. Oder als verlängerte PR-Abteilung für Energydrinks. Die WM in Katar. Die Champions League als Superleague im Tarnanzug. Den Menschenhandel mit Talenten im Kindesalter. Die Despoten-Kuschelei. Die Doping-Heuchelei. "Die Mannschaft". Die Überwachung in den Stadien. Die Kriminalisierung der Fans. Die Spieltagszerklüftung.
Es ist nicht so, dass diese kleinen und grossen Zumutungen des modernen Fussballs den Fussballfans nicht sauer aufstossen würden. In Umfragen sieht immer wieder eine Mehrheit die Grenze der Kommerzialisierung erreicht, es herrscht ein verbreitetes Grundgefühl: Hier stimmt doch was nicht.
Es gibt eine schnelle Erklärung dafür, was mit dem Fussball schiefläuft: Es geht nur noch ums Geld. Stimmt natürlich, nur haben die wenigsten verstanden, wie sich das auf den Sport auswirkt, den sie im Stadion oder auf der Couch verfolgen – und warum sie sich fast zwangsläufig vom Fussball entfremden.
Ein anderer Fussball
In meinem Buch "Ballverlust" habe ich die Ursachen dieser Entfremdung beschrieben: Besonders mit dem Aufkommen des Pay-TV und der Fernsehgeldschwemme wurde der Fussball zu einem Big Business, zu einem Teil der globalen Unterhaltungbranche, der wie in einem Goldrausch immer mehr Glücksritter anzieht.
Ausrüster wollen Trikots und Schuhe verkaufen, Sponsoren ihre Marken präsentieren, Berater und Investoren ihre Taschen füllen, Oligarchen ihre Langeweile vertreiben, Ölscheichs und sonstige Autokraten "soft power" aufbauen, Funktionäre ihr Netzwerk spinnen. Sie alle mögen unterschiedliche Interessen haben, das Ziel ähnelt sich: Aus dem Fussball so viel Geld pressen wie möglich, und sei es nur als Mittel zum Zweck.
Das Geschäft Profifussball kennt nur noch das Motto, das
Es produziert einen anderen Fussball als den, den wir kannten. Ich nenne ihn den marktkonformen Fussball: Er stellt den Profit in den Vordergrund - nicht das Spiel oder die Spieler, und ganz sicher nicht die Fans. Er bevorteilt die grossen Klubs und tötet die Spannung – mit Setzlisten, ungerechten TV-Prämien und Schlupflöchern bei der Lizenzierung. Er vermarktet sich um jeden Preis – mit immer mehr Spielen, immer neuen Wettbewerben, mit Werbung bis in den letzten Stadionwinkel. Und er entledigt sich des so wichtigen Faktors Zufall – mit einheitlichen Spielfeldern und Bällen, mit Torlinientechnologie und dem VAR.
Der Sport braucht den VAR nicht
Der Video Assistant Referee, kurz VAR, ist eines der besten Beispiele dafür, wie der marktkonforme Fussball funktioniert. Seit seiner Einführung in Fankreisen umstritten, hat er sich aus Sicht der Funktionäre bewährt: FIFA-Präsident Gianni Infantino frohlockte 2018, dass der Anteil richtiger Referee-Entscheidungen mit dem VAR von 93 auf 98 Prozent gesteigert werden konnte.
Nur: Rechtfertigt so eine minimale Steigerung auf hohem Niveau, dass so viele Emotionen aus dem Spiel gesaugt werden? Dass Fans den Jubelschrei quasi nur auf Bewährung ausstossen dürfen? Dass Elfmeter mit zwei Minuten Verzögerung gegeben werden? Dass der Fussball, das schöne Spiel, so technisch, so kontrolliert, so langweilig wird wie der Zeitgeist?
Für den marktkonformen Fussball fällt die Antwort leicht: Es steht einfach zu viel Geld auf dem Spiel. Ein Premier-League-Klub kassiert pro Saison mehr als 100 Millionen Euro Fernsehgelder, in der zweitklassigen Championship höchstens ein Zehntel. Ein falscher Pfiff im Abstiegskampf kostet also im Extremfall 100 Millionen Euro. Kein Wunder, dass die Schiedsrichter den VAR begrüssen.
In der Kreisliga braucht den VAR dagegen kein Mensch, der Sport kommt gut ohne solche Hilfsmittel aus. Der marktkonforme Fussball hat die technische Überwachung zum Sachzwang gemacht – und das Spiel verändert, ob es uns gefällt oder nicht.
Die absurde Dominanz der Grossen
Es war der Faktor Zufall, der früher noch das ein oder andere Mal dafür gesorgt hat, dass die Underdogs dem Favoriten mal ein Bein stellen konnten. Das vereiste Geläuf, auf dem technisch versierte Ballett-Truppen ins Schwimmen kamen, wird heute von der Rasenheizung aufgetaut. Die Stadien und Spielfelder sind normiert, es wird mit den gleichen Bällen gespielt, nur folgerichtig, dass nun die Auswärtstorregel im Europapokal gekippt wurde. Schöner Nebeneffekt für die UEFA: Das ermöglicht noch mehr Verlängerungen und damit noch mehr Sendezeit.
Wenn heute die immergleichen Vereine mühelos durch die Gruppenphase der Champions League düsen, gibt es dafür aber natürlich noch einen viel wichtigeren Grund: das liebe Geld, das nicht nur Tore schiesst, sondern sie auch verhindert. Kleine Quizfrage in dem Zusammenhang: Wann gewann zuletzt ein Klub die Königsklasse, der nicht aus den Top-Vier-Ligen Europas stammt? Richtig, 2004, vor 17 Jahren also, der FC Porto.
Weil die Champions League immer mehr Preisgeld ausschüttet, dominieren die Teilnehmer seit Jahrzehnten recht mühelos ihre heimischen Ligen, in denen sich die sportliche Langeweile meist fortsetzt.
In Deutschland nimmt die Dominanz der Bayern schon absurde Züge an: Insgesamt gab es seit Beginn der Spielzeit 2012/2013 311 Spieltage. 235 davon verbrachten die Bayern ganz oben. Wer es mit solchen Platzhirschen überhaupt noch aufnehmen will, schafft das eigentlich nicht mehr über harte Arbeit, sondern, liebe Grüsse nach Leipzig, nur über die goldene Leiter.
Und was ist mit den Fans?
So sieht er aus, der real existierende Profifussball im Jahr 2021: Eine Spielweise für die Reichen und Mächtigen, auf der am Ende die Grossen gewinnen. Mit all den Mätzchen, die sich neureiche Emporkömmlinge so erlauben – in der Corona-Pandemie etwa handelte sich der Profifussball durch beharrliche Dreistigkeit Extrawürste aus. Während die Nachwuchskicker im ganzen Land zu Hause hocken musste, zog der Profizirkus wieder los, weil: wirtschaftliche Notwendigkeit. Kann man so argumentieren, muss man aber nicht sympathisch finden.
Wenn auch ungewollt, zeichneten die Geisterspiele ein erhellendes Bewegtbild der Machtverhältnisse im Fussball: Der Fan in der Kurve zählt so gut wie nichts mehr, weil er zu wenig zahlt. Den Grossteil der Einnahmen erwirtschaften die Vereine mit TV-Geldern und sonstigen Medienrechten. Ob die Fans nach dem Sonntagsspiel am anderen Ende der Republik noch einen Zug nach Hause kriegen, ist da schnell zweitrangig.
Zumindest die engagierten Fans erschüttert ihre faktische Bedeutungslosigkeit bis ins Mark: Sie sind es, die mit ihrem Support, mit ihren Gesängen und Fahnen einen wichtigen Teil des Produktes Fussball ausmachen und die ihrem Verein immer treu bleiben. Gleichzeitig können sie diesem Produkt und teils sogar mit dem eigenen Verein immer weniger anfangen – sie entfremden sich vom marktkonformen Fussball.
Aussteigen wollen bislang offensichtlich nur wenige Fans. Zwar sinken die Zuschauerzahlen und die Fernsehquoten, doch zumindest den Big Playern wie Bayern, Chelsea oder Real kann das egal sein. Ganze Kontinente warten darauf, die Superstars auf Tourneen oder via Satellitenfernsehen zu sehen. Schon jetzt wird etwa der spanische Supercup in Saudi-Arabien ausgetragen. Warum nicht irgendwann das DFB-Pokalfinale in New York?
Weiter, immer weiter – und wer glaubt, dass sich das nochmal ändert, hat nicht richtig aufgepasst. Ja, eine WM alle zwei Jahre wird es erst einmal nicht geben, aber auch nur, weil es das Geschäftsmodell der UEFA gefährdet. Ja, die Superleauge-Pläne sind gestoppt, aber nur um den Preis der Aufstockung der Champions League. Ja, die DFL hat in einer "Taskforce Zukunft Profifussball" auch Fanvertreter befragt, aber wirklich zugehört hat sie nicht.
Wer vom marktkonformen Fussball wirklich die Schnauze voll hat, für den bleibt nur eins: Raus aus dem Stadion, weg mit dem Sky-Abo.
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