Bastian Schweinsteigers Rücktritt aus der deutschen Nationalmannschaft ist ein logischer Schritt. Der bald 32-Jährige muss den Fokus voll und ganz auf seine Karriere im Klub legen, will er noch ein paar Jahre auf einem guten Niveau spielen. Für Bundestrainer Joachim Löw bedeutet Schweinsteigers Abschied aber eine neuerliche Zäsur.

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Es ging ganz furchtbar los, an diesem verregneten Sonntagabend in Kaiserslautern. Deutschland war in den letzten Zügen der Vorbereitung auf die Europameisterschaft 2004, und auf dem Betzenberg sollte gegen die drittklassigen Ungarn noch ein bisschen an der Feinabstimmung geschraubt werden.

Und auf einmal stand es nach 45 Minuten 0:2 gegen das von Lothar Matthäus trainierte Team, und der deutsche Teamchef Rudi Völler versuchte, auf ungewöhnliche Art zumindest ein bisschen Schadensbegrenzung zu betreiben. Also brachte er Bastian Schweinsteiger zur zweiten Halbzeit.

Ein 19-Jähriger als Lichtblick in einer tristen Zeit. Da war es fast schon folgerichtig, dass auch Lukas Podolski gegen die Ungarn später noch sein Debüt im Nationaldress feiern durfte. Beide nahm Völler danach auch mit zur EM, wo die Zweitklassigkeit der deutschen Nationalmannschaft vor den Augen der Welt manifestiert wurde.

Unzählige grosse Momente

Es ist viel Zeit vergangen und jede Menge passiert seitdem. Zwölf Jahre lang hat Bastian Schweinsteiger den deutschen Fussball geprägt. Er hat 120 Spiele bestritten und er hätte vielleicht sogar der neue Rekordspieler werden können - hätte er nicht so viele Spiele wegen einer Verletzung oder Erkrankung absagen müssen.

Er hat in dieser Zeit sieben grosse Turniere gespielt, stand insgesamt 8.985 Minuten für Deutschland auf dem Platz, hat 24 Tore erzielt und 39 vorbereitet, 17 Gelbe und eine Rote Karte gesammelt. Das sind die Zahlen.

In Erinnerung bleiben freche Auftritte wie beim Confed-Cup 2005, die Schweini-Poldi-Posterboys, drei Tore im Spiel um Platz drei bei der Heim-WM 2006, seine Tätlichkeit zwei Jahre später gegen die Kroaten bei der EM, der spielerische Aufstieg vom Flügel ins Zentrum, die Ernennung zum "Aggressive Leader", die vergebliche Quälerei bei der EM 2012, die Monsterleistung im WM-Finale von Rio und zuletzt ein Handspiel, das Deutschland gegen Frankreich das Genick brach.

Mit dem Aus bei der EM vor wenigen Wochen ist sein letzter grosser Traum geplatzt. Nur die ganz Grossen haben es geschafft, in ihrer Karriere alle wichtigen Titel zu gewinnen: die Weltmeisterschaft, die Champions League, den nationalen Titel sowie den Pokal und dann eben noch eine Kontinentalmeisterschaft. Es war Schweinsteigers grösster Wunsch, mit dem EM-Titel in diesen erlauchten Kreis vorzustossen; die Niederlage von Marseille dürfte den entscheidenden Anstoss für seinen Rücktritt gegeben haben.

"Jogi Löw wusste, wie viel mir diese Europameisterschaft bedeutet hat. Ich wollte unbedingt diesen Titel gewinnen, den wir seit 1996 nicht mehr nach Deutschland holen konnten. Es sollte nicht sein und ich muss es akzeptieren", schrieb Schweinsteiger via "Twitter".

Philipp Lahm als Beispiel

Schweinsteiger ist natürlich auch klar, dass seine schwierige Situation in Manchester so leicht nicht zu lösen sein wird. Wenn es dafür denn überhaupt noch eine Lösung bei United gibt. Ein Wechsel erscheint unausweichlich in diesem Sommer. Und die Erfahrungen nach seinem ersten Vereinswechsel überhaupt vor einem Jahr dürften Schweinsteiger einiges gelehrt haben.

Er kam bereits angeschlagen bei United an, fiel dann lange Zeit aus, setzte sich angesichts der knapp bemessenen Zeit hinsichtlich der EM selbst unter grossen Druck, kam zurück - und verletzte sich sofort wieder. Nicht nur die Saison in Manchester war dadurch eine verlorene, fast hätte er auch sein letztes grosses Turnier für Deutschland verpasst.

Sollte Schweinsteiger nun also wechseln müssen, fällt ab sofort die Zweifachbelastung weg. Wie befreiend das wirken kann, konnte er gut bei seinem Kumpel Philipp Lahm sehen, der vor zwei Jahren seinen Rücktritt als Kapitän der Nationalmannschaft bekanntgab und seitdem - trotz fortschreitenden Alters - im Prinzip nie verletzt ist und spielt wie ein Uhrwerk.

Viele Aufgaben für Löw

Für Joachim Löw beginnt die neue Zeitrechnung mit dem Testspiel Anfang September gegen Norwegen nun also zum zweiten Mal in Folge nach einem grossen Turnier ohne den Kapitän. Die Nationalmannschaft steht vor durchaus schwierigen Jahren, Löw ist von seinen getreuen Gefolgsleuten nur mehr Lukas Podolski geblieben.

Die üblichen Baustellen hat die EM zuletzt wieder allzu deutlich aufgezeigt: fehlende Qualität auf den Aussenverteidigerpositionen und im Angriff. Löw, sein Trainerteam und Sportdirektor Hansi Flick sind nun gefragt, diese seit Jahren schwelenden Probleme endlich zu beheben.

Dazu muss der Bundestrainer eine neue Hierarchie innerhalb der Mannschaft formen. Ein neuer Kapitän muss bestimmt, der Mannschaftsrat neu aufgestellt werden und es müssen sich neue Meinungsführer herauskristallisieren. Wie bereits vor zwei Jahren, als Lahm, Per Mertesacker und Miroslav Klose zurücktraten.

"Ich möchte mich für zwölf Jahre vertrauensvolle Zusammenarbeit im sportlichen wie im menschlichen Bereich bedanken. Zwischen uns beiden herrschte in jeder Beziehung absolutes Vertrauen. Wir konnten uns zu jeder Zeit über sportliche und menschliche Themen austauschen und durch sein Verhalten hat er auch die Mannschaft geprägt", liess Löw in einem ersten Statement verlauten.

Bastian Schweinsteiger war das Gesicht des Aufschwungs der deutschen Nationalmannschaft in den letzten zehn Jahren, von einer vergessenen Mannschaft bis hin zum WM-Triumph.

Er war ein Anführer, ein Vorbild und Aushängeschild des deutschen Fussballs - eben der Boss. Das wird in Erinnerung bleiben.

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