Deutsche Torhüter wurden im Weltfussball fast schon gottgleich verehrt, nun droht die ehemalige Paradedisziplin zu einer grossflächigen Problemzone zu werden. Wie konnte das passieren?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Stefan Rommel sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Bei der Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika war Miroslav Klose der einzige deutsche Mittelstürmer von Weltklasseformat aber eben schon 32 Jahre alt. Kloses Zeit im DFB-Dress schien damals schon endlich, seine Rückkehr vier Jahre später samt WM-Rekord mit 15 Toren bei kontinentalen Titelkämpfen war in der Art kaum zu erwarten.

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Die Debatten köchelten in dieser Zeit jedenfalls sehr moderat, wer denn Klose eines Tages würde beerben können. Die Gefahr, dass dem Land der Mittelstürmer in der Tradition von Uwe Seeler, Gerd Müller, Karl-Heinz Rummenigge, Klaus Fischer, Rudi Völler oder Oliver Bierhoff einmal die entsprechend hochklassigen Spieler für diese Position ausgehen könnten, wurde jedenfalls eher verkannt.

Und nach Kloses Rückzug vor nunmehr zehn Jahren wartet der deutsche Fussball immer noch vergeblich auf einen legitimen Nachfolger und ein Ende der Misere ist nicht in Sicht. "Miro Nationale" hatte mit seinen Toren und seiner Dauer-Präsenz bei der Nationalmannschaft unfreiwillig und ohne eigenes Zutun zu lange den Kern des Problems verschleiert.

Der Gold-Standard

Auf einen ähnlich gelagerten Konflikt steuert die Nationalmannschaft auch in einem anderen Mannschaftsteil schon seit geraumer Zeit zu. Auch da gab es lange Zeit scheinbar kein Problem das nun aber umso deutlicher sichtbar wird und den deutschen Fussball in seinem Selbstverständnis zumindest irritieren sollte.

Noch mehr als das Land der Mittelstürmer war Deutschland immer das Land der Torhüter. Toni Turek, Bert Trautmann, Sepp Maier, Toni Schumacher, Bodo Illgner, Andy Köpke, Oliver Kahn: Das waren Torhüter mit Weltruf, international bisweilen regelrecht gefürchtet. Unterschiedspieler, Elfmetertöter, der Gold-Standard des internationalen Torhüter-Spiels.

Nun ist Manuel Neuer nicht mehr da, jedenfalls nicht im Team der deutschen Nationalmannschaft. Und auch beim FC Bayern strebt die überragende Karriere des mittlerweile 38-Jährigen ihrem unweigerlichen Ende entgegen. Neuer ist mit 124 Länderspielen mit weitem Abstand der Rekord-Nationalspieler unter den Keepern, nach 14 Jahren als Nummer eins war in diesem Sommer Schluss.

Und selbst wenn sich Neuer und Bundestrainer Julian Nagelsmann eine Rückkehr theoretisch noch einmal vorstellen könnten: Ob der immer verletzungs- und auch fehleranfällige Neuer immer noch das dafür nötige Format hätte, wäre eine zweite zentrale und offene Frage.

Kommt ter Stegen nochmal zurück – und wie?

Wie Neuer selbst, der sich vor rund zwei Jahren schwer verletzt hatte, muss auch dessen Nachfolger Marc-André ter Stegen aktuell eine erste gravierende Verletzung überstehen. Ter Stegens Ausfall nach einem Riss der Patellasehne hat nicht nur ein Vakuum entstehen lassen im deutschen Tor, sondern wirft unweigerlich auch die Frage auf, ob und in welcher Form der 32-Jährige wird zurückkehren können – bei seinem Klub in Barcelona und auch im Kreis der deutschen Nationalmannschaft.

Im besten Fall kann der ewige Kronprinz ter Stegen in rund anderthalb Jahren endlich sein erstes grosses Turnier spielen, wenn es optimal läuft, dann vielleicht sogar noch die Europameisterschaft 2028 mitnehmen. Aber was passiert danach oder vielleicht sogar schon davor, sollte ter Stegen nicht mehr an die Form vor der Verletzung anknüpfen können?

Wer übernimmt im deutschen Tor, wenn die beiden prägenden Figuren der letzten anderthalb Jahrzehnte nicht mehr zur Verfügung stehen? Auf diese Fragen scheint der Deutsche Fussball-Bund (DFB) aktuell nur wenige Antworten zu haben.

Vorübergehender Zweikampf

Bei den jüngsten Länderspielen und auch noch für die nahe Zukunft hat Bundestrainer Nagelsmann ein Duell zwischen Oliver Baumann und Alexander Nübel um die Nummer eins ausgerufen. Baumann ist der Konstantere von beiden, zeigt in der Bundesliga seit Jahren beständig gute Leistungen und hat sich die Meriten zuletzt redlich verdient.

Aber ein Torhüter von Weltklasseformat und nicht weniger ist man von einer deutschen Nationalmannschaft auf dieser Position seit Jahrzehnten gewohnt ist Baumann bei allem Respekt nicht. Deutsche Keeper verkörperten immer auch fast schon einen Mythos. Das ist nicht Baumanns Schuld, eher der Fluch der guten Tat: Aber die Nummer eins der TSG Hoffenheim ist davon gefühlt dann doch ein Stück entfernt.

Und mit mittlerweile 34 Jahren dürfte Baumann, sollte er das Rennen vorerst für sich entscheiden, auch nur eine Übergangslösung sein.

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Nübel fehlt die totale Verlässlichkeit

Alexander Nübel hat die Symbiose mit seiner aktuellen Mannschaft in der abgelaufenen Saison perfekt genutzt: Mit seiner Art des Torhüterspiels erst das Stuttgarter Spiel und damit auch die Erfolge ermöglicht. Sowohl in der Torverhinderung als auch als erster Aufbauspieler.

Was aber auch da schon latent zu erkennen war, hat sich in den letzten Wochen und Monaten immer offenkundiger gezeigt: Baumanns deutlich jüngeren Kontrahenten fehlt es an absoluter Verlässlichkeit und Konstanz. Zuletzt nahmen die zum Teil gravierenden Fehler beim 28-Jährigen wieder zu.

Nicht nur beim Abwehren von Bällen, auch im Passspiel wirkte Nübel nicht mehr akkurat genug. Bei einer Mannschaft wie dem VfB, die den Gegner immer auch anlocken und dann riskant so eng wie möglich am Gegenspieler vorbeipassen will, ein doppelt teures Problem.

Leno, Trapp, Ortega, Blaswich: Jeder hat seine Probleme

Immerhin müssen Nübel und Baumann in ihrem direkten Konkurrenzkampf keine weitere Partei fürchten. Es gibt aktuell schlicht keinen Kandidaten, der ernsthaft in dieses Rennen eingreifen könnte. Bernd Leno hat sich mit seinem "Boykott" quasi selbst aus dem Rennen genommen, Kevin Trapp sich mehr als nur einen Rüffel eingefangen vom Bundestrainer nach seiner öffentlichen Kritik.

Eine Rückkehr scheint derzeit kaum möglich, zumal auch Trapp im Klub unter dem Nübel-Problem leidet und herausragende Leistungen immer auch wieder mit Patzern konterkariert.

Stefan Ortega wurde zuletzt nominiert, spielt aber bei seinem Klub Manchester City allenfalls sporadisch und kommt daher kaum für den Posten als Nummer eins im deutschen Tor infrage. Aber immerhin hat es Ortega mit 32 Jahren nun doch noch in den Kreis der A-Nationalmannschaft geschafft.

Janis Blaswich ist dagegen fast schon in Vergessenheit geraten, dabei war der 33-Jährige bis vor ein paar Monaten auch noch ein Teil des Torhüterteams. Mit dem Abgang von RB Leipzig zur kleinen Schwester Red Bull Salzburg ist Blaswich aber komplett vom Radar verschwunden, hat in Salzburg erst seinen Stammplatz verloren und sich danach verletzt.

Es fehlt eine ganze Generation an Spitzenkräften

Im Alterssegment zwischen 22 Jahren also nach der U-21-Nationalmannschaft und bis 30 Jahren sieht es unter deutschen Torhütern jedenfalls gar nicht gut aus. Natürlich gibt es auch da einige interessante Namen, aber sind Mainz' Robin Zentner oder der Gladbacher Moritz Nicolas wirklich künftige deutsche Nationaltorhüter?

Andere wie Timon Wellenreuther von Feyenoord mussten früh den Umweg über das Ausland nehmen, um heute auf Spitzenniveau spielen zu können. Dass in der Bundesliga allenfalls die Hälfte der Klubs auf eine Nummer eins mit einem deutschen Pass setzt, daran hat man sich in den letzten Jahren längst gewöhnt.

Das wiederum hat aber auch die Entwicklung deutscher Keeper torpediert, die Lücke hinter ter Stegen ist markant und jetzt auch nicht mehr zu schliessen. Mahner wie etwa Tobias Haupt, Akademie-Leiter beim DFB, wurden lange nicht gehört.

Zusammen mit DFB-Torwartkoordinator Marc Ziegler erstellte Haupt eine Art "Torhüter-DNA", einen Leitfaden aus zehn Bausteinen für die (Neu-)Entwicklung deutscher Spitzen-Keeper und auch das Projekt "N28". Darin geht es um die Nachfolge von Neuer und ter Stegen für oder ab der EM 2028.

Immerhin: Dafür rückten zuletzt wieder verstärkt einige hoffnungsvolle Talente nach. Der Freiburger Noah Atubolu (22) ist so ein Kandidat, Jonas Urbig (21) vom 1. FC Köln oder noch etwas besser versteckt die beiden Drittliga-Keeper Dennis Seimen (19) vom VfB Stuttgart und Hachings U-17-Weltmeister Konstantin Heide (18).

Das Problem scheint offenbar endlich erkannt. Für eine dauerhafte Lösung des Problems könnten aber noch ein paar Jahre vergehen.

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