Leon Goretzka galt als Auslaufmodell und sollte sogar seinen Verein verlassen. Das DFB-Comeback belohnt seinen Charakter und wie er mit der Situation umgegangen ist.

Pit Gottschalk
Eine Kolumne
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Noch im November hatte sich die Nationalmannschaft darauf verständigt, dass der DFB-Kader mit Blick Richtung WM 2026 im Grundsatz steht. Dass ein paar Talente zwischendurch frischen Wind reinbringen: Richtig so! Dass Altgediente ihren Vorruhestand geniessen dürfen: Nur logisch! Nun hat der Bundestrainer eine Kehrtwende vollzogen, die Erklärungsbedarf hat. Es geht um Leon Goretzka.

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Julian Nagelsmann hatte ihn vor der Heim-EM 2024 aussortiert und sogar Emre Can vorgezogen, als fürs Mittelfeld nachnominiert werden musste. Die Botschaft an den Bayern-Star: Deine Zeit beim DFB ist vorbei. Goretzka ist inzwischen 30 Jahre alt und galt deshalb als Auslaufmodell. Bayern München wollte ihn folgerichtig vor Saisonbeginn loswerden, aber fand für ihn keinen Abnehmer. Er blieb.

In einer solchen Situation, quasi am Scheideweg ihrer Karriere, können Fussballprofis zweierlei reagieren. Entweder wie einst Weltmeister Thomas Berthold, der beim FC Bayern auf der Ehrentribüne einen bequemen Sitzplatz einnahm, sein fürstliches Gehalt Monat für Monat kassierte und ansonsten sein Golf-Handicap verbesserte – oder wie Goretzka.

Er blies kein Trübsal, er tat, wofür er bezahlte wurde – er trainierte und war zur Stelle, als seinem Vereinstrainer Vincent Kompany das Personal im zentralen Mittelfeld ausging. Die Spekulationen überschlugen sich trotzdem regelmässig, welches Transferfenster Goretzka zum Abflug nutzen würde. Die Nationalelf: schon lange kein Thema mehr.

Jetzt schaut der scheinbar Ausgemusterte auf eine ansehnliche Saisonbilanz. 19 von 25 Bundesliga-Spielen absolviert, zehn von zwölf Einsätzen in der Champions League, dazu fünf Treffer und zwei Torvorlagen: Das sind Werte eines Stammspielers und nicht die eines Lückenbüssers. Und trotzdem kommt von Goretzka kein Wort der Genugtuung oder des Grolls.

Man kann das alles nur so interpretieren: Er ist Sportsmann durch und durch, integer und leistungsorientiert. Auf seine geplante Degradierung hat er nicht mit dem Mund, sondern mit den Beinen reagiert, also damit, wofür er bezahlt wird. Der Einzug ins Viertelfinale der Champions League geht auch auf ihn zurück: Er sortierte das Mittelfeld in beiden Spielen gegen Meister Leverkusen.

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Es spricht für Bundestrainer Nagelsmann, dass er dieses Formhoch nicht nur sieht, sondern auch die richtigen Schlüsse zieht. Er nominierte Goretzka am Donnerstag für die Italien-Länderspiele in der Nations League. Dazu einen weiteren Rückkehrer: Nadiem Amiri, der bei Mainz 05 aufdreht und sein letztes Länderspiel vor fünf Jahren hatte.

Das ist keine Selbstverständlichkeit. Es gab schon DFB-Trainer, die jede Korrektur der eigenen Entscheidung als Eingeständnis von Schwäche betrachtet haben. (Zur Erinnerung: Berti Vogts und Stefan Effenberg 1998.) Nicht so Nagelsmann: Er stellt den Nutzen für die Mannschaft über sein Ego. Er will das beste Team und nicht die beste Darstellung.

Das gibt jedem Fan, der's gut mit der Nationalmannschaft meint, das sichere Gefühl: Es geht um Leistung. Und wenn dann einer nicht nominiert wird, dann hat der Bundestrainer gute Gründe dafür. Ob Leon Goretzkas Formhoch bis zur Weltmeisterschaft Mitte 2026 andauert, ist offen. Aber er hat sich die Chance, die ihm Nagelsmann jetzt gibt, redlich verdient.

Über den Autoren

  • Pit Gottschalk ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chefredakteur von SPORT1. Seinen kostenlosen Fussball-Newsletter Fever Pit'ch erhalten Sie hier.
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