Das Spiel des DFB-Teams in Estland wurde von zwei Akteuren und zwei Bestmarken dominiert. Am Ende waren trotzdem alle froh und erleichtert – und sichtlich bemüht, eine Diskussion erst gar nicht aufkommen zu lassen.
Was sollte schon passieren im Land der Leichtathleten und Langläufer? In der Gunst der Esten firmiert der Fussball allenfalls als Sportart Nummer vier – obwohl die Zahl der Fussballspieler in den letzten Jahren stetig angestiegen ist, derzeit gibt es im 1,3-Millionen-Einwohner-Land rund 25.000 aktive Kicker.
Die Esten finden die Freude am Spiel wieder, nachdem der Fussball einst als der Sport der Russen galt und in der damaligen Sowjetunion von Moskau aus gesteuert und estnische Mannschaften unterdrückt wurden. Und trotzdem setzt sich die Nationalmannschaft hauptsächlich aus Spielern zusammen, die in der Heimat, in Norwegen, Finnland oder Kasachstan ihr Geld verdienen.
Die deutsche Nationalmannschaft sah sich bei ihrem Ausflug nach Tallinn also einem allenfalls zweit-, eher sogar drittklassigen Gegner gegenüber und bekam doch erheblich mehr Probleme, als man sich das vor der Partie hätte vorstellen können.
Der Start des turmhohen Favoriten war schon alles andere als berauschend, und als Emre Can dann nach 14 Minuten vom Platz flog, hätte es ein reichlich ungemütlicher Abend werden können für die Mannschaft und ihren Trainer
Deutschland gegen Estland: Emre Cans Rekord-Rot
Die geschichtsträchtige Rote Karte für
Deutschland konnte in Unterzahl und ohne eine griffige Umstellung seines Spiels sogar fast froh sein, mit einem 0:0 in die Halbzeitpause zu kommen. Der fehlende Feldspieler war dabei vielleicht eine, aber keinesfalls die einzige Erklärung für eine schwache Leistung der Nationalmannschaft – die Spieler sahen das aber etwas anders.
"Wir spielen seit der 18. Minute oder so in Unterzahl, deshalb war das Anlaufen schwierig. Es war schon genug Seriosität drin, aber es war natürlich nicht einfach nach der Roten Karte – da passiert ja auch was im Kopf. Ich fand die erste Halbzeit jetzt nicht so blamabel", sagte Torhüter und Kapitän
Marco Reus: "Wir haben schlecht gespielt"
Ein Tag, der überschattet wurde von den Aktivitäten Cans und Ilkay Gündogans auf Instagram und den darauffolgenden Richtigstellungen der beiden Spieler, der aber durchaus das Potenzial zu haben schien für eine faustdicke Überraschung.
Löws Mannschaft wirkte nicht nur bei Cans Platzverweis unkonzentriert, als der sich bei einem an sich ordentlichen Querpass von Süle nicht sauber vororientierte und den Ball statt anzunehmen einfach durchlaufen liess, direkt in die Beine des längst lauernden Esten Frank Liivak.
Deutschland blieb auch in der Folge ungewohnt wackelig gegen die tiefstehenden Gastgeber, die mit vereinzelten Kontern und nach Standards sogar mindestens so viel Torgefahr ausstrahlten wie die deutsche Mannschaft, die nur einen Lattenschuss von
"Wir haben in der ersten Halbzeit echt schlecht gespielt, das muss man ehrlich so sagen", äusserte sich Reus weniger nachsichtig mit der Mannschaft als die meisten seiner Kollegen und deutete an, was wirklich der Fall war: Die Rote Karte hatte keinen grossen Einfluss auf das Spiel der deutschen Mannschaft. Die spielte einfach nur schlecht.
Rekord: 180 Ballaktionen von Ilkay Gündogan
Umso besser, dass
Deutschland spielte nun schneller und gleichzeitig geduldiger. Es sei wichtig gewesen, das erste Tor zu erzielen, "um dem Gegner die Moral zu nehmen", wie es Löw formulierte.
Dass der Bundestrainer dann aber einen direkten Zusammenhang zwischen Gündogans starker Leistung und den Vorkommnissen vor der Partie herstellte, passt irgendwie zu diesem etwas kruden Abend.
"Das war heute ein klares Statement für Deutschland von Ilkay. Wer die beiden kennt, weiss, dass sie natürlich gegen Terror und Krieg sind", sagte Löw angesprochen auf Gündogans und Cans Reaktion auf das türkische Jubelfoto.
Dabei dürfte Gündogans Leistung damit so viel zu tun gehabt haben wie die Rote Karte mit der schwachen deutschen Leistung in der ersten Halbzeit – nämlich gar nichts.
Jedenfalls spielte der Favorit den Gegner einfach müde und siegte am Ende verdient.
"Es war eine Frage der Zeit, weil die Esten viel laufen mussten. Wir haben sie quasi über die Fitness bekommen und den Ball laufen lassen, wir hatten ein gutes Positionsspiel. Das fand ich nicht so schlecht", sagte Neuer.
Tatsächlich hat seine Mannschaft die ungewohnte Situation in Unterzahl irgendwann angenommen und gemeistert, damit unfreiwillig aber auch eine andere Erkenntnis der letzten Partien zementiert: Es gelingt dem Team derzeit einfach nicht, über 90 Minuten eine konstant starke Leistung abzurufen.
Die Debatte schnell beenden
"Diese Woche ist viel falsch gelaufen wegen der Verletzungen, zuletzt sind auch noch Ilkay, Marco Reus und Jonathan Tah ausgefallen, wir mussten wieder improvisieren und hatten wenige Möglichkeiten, im Training auch mal Dinge einzustudieren", sagte Löw, dem offenbar auch einige "Löw raus"-Rufe im Stadion von Tallinn gegolten hatten. Die wollte der Bundestrainer aber nicht gehört haben. Stattdessen gelte es nun, die beiden Spiele und den Lehrgang gut zu analysieren, "wir haben einige gute Erkenntnisse gewonnen", sagte Löw.
Dabei wäre es ganz vorteilhaft, wenn die Diskussionen um Can und Gündogan so schnell wie möglich und lückenlos aufgeklärt werden. Die beiden Spieler bemühten sich persönlich nach der Partie um eine erneute Richtigstellung.
"Es ist krass, was für Geschichten geschrieben werden", sagte Gündogan. "Ich dachte, ich like ein Foto von einem ehemaligen Teamkollegen und Freund, der ein Tor schiesst und seine Mannschaft zum Sieg führt. Neben mir haben das auch andere Fussballspieler aus der ganzen Welt gemacht. Es war absolut keine politische Absicht dahinter, Emre und ich sind absolut gegen jeden Terror und Krieg, das war nur als reine Unterstützung für unseren Freund gedacht.“
Für den neuen DFB-Präsidenten Fritz Keller sind das gute Signale. Es gibt sicherlich Schöneres, als mit einer schwelenden Debatte seinen Einstand beim DFB zu geben. Und Kellers Vorgänger Reinhard Grindel stolperte letztlich ja auch über einen ähnlich pikanten Sachverhalt – das Erdogan-Gate war der Anfang vom Ende für Grindel.
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