Deutschland erledigt die Pflichtaufgabe in Nordirland, offenbart dabei aber erneut einige Schwächen. So ganz wird immer noch nicht ersichtlich, was der Bundestrainer mit dieser Nationalmannschaft vorhat.

Eine Analyse

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Es war schon gehörig Druck auf dem Kessel, das gaben die Beteiligten zumindest nach der Partie offen zu. Eine Niederlage wie die gegen die Niederlande, mit unterlegenem Fussball und gleich vier Gegentoren in einer Halbzeit, hatte deutliche Spuren hinterlassen bei der deutschen Nationalmannschaft.

Und weil sich dadurch in der EM-Qualifikation auch die Gemengelage gehörig verschoben hatte, war das Spiel gegen Nordirland zwar kein Schicksalsspiel, aber doch eine Partie von besonderer Brisanz. Sie wurde zu einem klassischen Ergebnisspiel.

Joachim Löw hatte dafür vor dem Spiel einen "Mentalitätswechsel" ausgerufen, ein Remis oder gar eine Niederlage hätte bei der zarten Entwicklung der Mannschaft doch einen gehörigen Flurschaden hinterlassen und die Debatten um den viel proklamierten Umbruch mit allen seinen Begleitumständen neu befeuert.

Also ging es in Belfast am Montagabend in erster Linie um das nackte Ergebnis, das die DFB-Auswahl nach 90 erbittert geführten Minuten auch einfuhr.

Das 2:0 (1:0) bringt Löws Mannschaft in der Gruppenphase grosse Erleichterung, die Qualifikation dürfte angesichts des ersten gewonnenen Vergleichs mit den Nordiren und der Schwäche der anderen noch ausstehenden Gegner aus Weissrussland und Estland nur noch Formsache sein; es qualifizieren sich die ersten beiden Mannschaften einer Gruppe direkt für die EM im kommenden Jahr.

Deutscher Underdog-Fussball

Aber die Art und Weise, wie sich Deutschland bei den zweitklassigen Nordiren zum Erfolg mühte und wie die Mannschaft zeitweise gehörig ins Schwimmen geraten war, lässt doch weiter Zweifel an der Wettbewerbsfähigkeit dieser jungen Truppe auf höchstem Niveau zu.

Mal wieder ist es Löws Mannschaft nicht gelungen, konstant über 90 Minuten ihre Leistung abzurufen. Es bleiben zu viele Wellenbewegungen innerhalb der Spiele, sehr gute Phasen wechseln sich mit Schwächeperioden ab, in denen die Mannschaft das Heft dann teilweise völlig aus der Hand gibt und damit auch die Kontrolle über das Spiel.

So etwas kennt man ja kaum noch von einer deutschen Nationalmannschaft. In der letzten Dekade war Deutschland ja zu einer Art Spanien-Klon mutiert, entwickelte sich von einer Kontermannschaft mit der jungen 2010er Generation zu einer der besten Ballbesitzmannschaften der Welt.

Mit dem Aus bei der Weltmeisterschaft im letzten Jahr erklärte Löw dieses Phase aber plötzlich für beendet und will nun einen anderen, direkteren Fussball spielen lassen.

In Belfast sah das dann teilweise so aus, dass der Gegner den Ball haben durfte und das grosse Deutschland aus einer Konterhaltung heraus attackierte. Es war ein wenig Underdog-Fussball, den die Deutschen da zeigten und nicht wenige Fans im Windsor Park rieben sich verwundert die Augen.

Vor rund zwei Jahren war hier schliesslich schon eine deutsche Mannschaft zu Gast, die Nordiren hatten damals kaum einmal den Ball am Fuss und wurden von der deutschen Dominanz beinahe erdrückt.

"Alles ein bisschen durcheinander"

Am Montagabend hatten die Nordiren aber sehr oft den Ball und wussten damit auch einiges anzustellen. Mit der Wucht und auch dem Mut der Gastgeber war Deutschland einige Male sichtlich überfordert. Löw hatte die Mannschaft in "seinem" 4-2-3-1 aufgestellt, zwei Innenverteidiger sollten gegen die Nordiren doch wohl genügen.

Nur tat ihm das Team von Trainer Michael O'Neill nicht den Gefallen und igelte sich hinten ein. Stattdessen rannten die Grün-Weissen munter nach vorne, besetzten die letzte deutsche Linie mit drei oder vier Spielern und spielten so, wie man Deutschland eigentlich erwartet hätte.

Löws Mannschaft von vor der WM hätte einen derart furchtlosen Gegner nonchalant ins Leere und letztlich ins Verderben laufen lassen und sich das hohe Pressing des Gegner zu Nutze gemacht.

Alleine, dass die Nordiren aber diesen Weg wählten zeigte auch, wie stark der Respekt und die Ehrfurcht vor der deutschen Mannschaft geschrumpft sind.

Ein Mentalitätswechsel auf deutscher Seite war jedenfalls nicht zu erkennen. Während die Gastgeber in jeden Zweikampf flogen, zogen sich einige deutsche Spieler zurück und so entwickelte sich eine Spieldynamik, die einer technisch klar überlegenen Mannschaft schlicht nicht schmecken konnte.

"Es war alles ein bisschen durcheinander", gestand Löw nach dem Spiel bei "RTL". Die Raumaufteilung war nicht gut, die wegen einiger Absagen erneut umgestellte Mannschaft hatte Findungsprobleme, die erfahrenen Spieler wie Toni Kroos, Marco Reus und dann auch Manuel Neuer zeigten erhebliche Schwächen.

Wieder kein Platz für Havertz

Die Routiniers im Team sind ohnehin in der Unterzahl, mit Neuer und Kroos sind nur noch zwei Weltmeister dauerhaft gesetzt, der Rest der Mannschaft schmiegt sich drum herum an und soll im Laufe der nächsten Wochen und Monate noch enger zusammenwachsen.

Und Löw muss sich ein paar Ansätze überlegen, wie er all diese begabten Spieler unterbringen will. Gegen die Nordiren fehlte erneut der derzeit wohl beste deutsche Spieler in der Startelf.

Für Kai Havertz war mal wieder kein Platz und in den Grundzügen erinnert diese Personalie schon ein wenig an Löws inneren Kampf mit der Installation von Leroy Sané damals.

Es wird eine der grossen Aufgaben für den Bundestrainer, nicht nur eine passende Grundordnung zu finden und eine Spielausrichtung, die der Kaderqualität gerecht wird, sondern auch Planstellen zu finden oder zu schaffen, die das Beste aus jedem Einzelnen herauskitzeln.

Denn die Klasse der Einzelspieler ist klar erkennbar, als Mannschaft funktioniert die Auswahl aber noch nicht beständig genug. Deshalb fallen die üblichen Schlagwörter Umbruch und Prozess. "Wir sind in einer Phase des Lernens", fügte Löw noch eine neue Vokabel hinzu.

Der Weg zurück wird beschwerlich

Ein veritables Problem dabei bleibt die vage Standortbestimmung. Die Qualifikationsgruppe weist nur mit der Niederlande einen Gegner auf Weltklasseniveau aus, weshalb die Testspiele bis zum EM-Turnier von gehobener Bedeutung sind. Gleich im Oktober wartet der ewige Rivale Argentinien zum direkten Vergleich.

Der Weg zurück in die absolute Weltspitze wird beschwerlich genug, das dürften die letzten Spiele gezeigt haben. Noch steht das Gerüst auf etwas wackeligen Beinen, vielleicht kommt die EM im nächsten Jahr für diese Mannschaft auch noch zu früh.

Das wird dann aber auch erst beim Turnier selbst zu erkennen sein. Bis dahin müssen sich Löw und die restlichen 80 Millionen Bundestrainer noch mit der Interpretation von Anhaltspunkten begnügen.

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