• Der deutsche Nachwuchsfussball steckt in seiner tiefsten Krise seit 20 Jahren.
  • Der Deutsche Fussball-Bund will mit einem harten Kurswechsel in der Ausbildung gegensteuern.
  • Doch dieser geplante Kurswechsel gefällt nicht jedem.
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Die Revolution platzte Ende Oktober durch die Hintertür hinein in den deutschen Nachwuchsfussball. Damals verschickte der Deutsche Fussball-Bund per Mail eine Vorabinformation zum sagenumwobenen "Projekt Zukunft" an die Leiter der Nachwuchsleistungszentren in Deutschland. Teilweise explosive Inhalte, gepackt in ein 19-seitiges PDF-Dokument. Wenige Wochen zuvor gab es schon eine Art "soft launch", als die geplante Umstrukturierung des Spielbetriebs unter anderem in den Bundesligen der U17- und U19-Junioren versandt wurde.

Man kann dem DFB und seinen Machern im Vorder- oder Hintergrund nicht vorwerfen, während der Corona-"Pause" seit Beginn des Jahres untätig gewesen zu sein. Die tiefgreifendste Reform der Kinder- und Jugendausbildung seit 20 Jahren steht in den Startlöchern, die Konzepte sind verfasst und an die betreffenden Stellen geleitet. Im kommenden Frühjahr sollen die Pläne auch offiziell beim DFB-Bundestag abgesegnet werden.

So weit, so gut - könnte man meinen. Aber zum einen regt sich schon jetzt erste Kritik gegen die Pläne des DFB, und zum anderen ist so ein radikaler Eingriff in ein bestehendes System ja immer auch ein Eingeständnis dafür, dass in jüngster Vergangenheit so einiges schiefgelaufen sein muss. Beim DFB und seiner Nachwuchsausbildung vermutlich sogar mehr als das.

Geblendet vom WM-Titel

Fast 15 Jahre lang hat sich der grösste Sportfachverband der Welt im Glanz seiner letzten Reformation gesonnt: Die Einführung der Nachwuchsleistungszentren nach dem Debakel der Nationalmannschaft bei der EM 2000 galt lange Zeit als Meilenstein und Ursprung der späteren goldenen Generation um die Weltmeister von 2014. Der WM-Titel der Nationalmannschaft hat einige wichtige Protagonisten aber offenbar derart geblendet, dass schon damals erkennbare Defizite in der Ausbildung der besten Talente des Jahres geflissentlich übersehen wurden. Deshalb nun die Hektik, es gibt keine Zeit mehr zu verlieren.

"Wir müssen uns jetzt ein bisschen strecken. Wir haben zwar in der Spitze einige sehr talentierte Spieler. Aber für ein grosses Land wie Deutschland kann der Anspruch ja nicht sein, irgendwie 20 gute Spieler zusammenzukratzen. Das ist in der Breite deutlich zu wenig", sagt einer, der es wissen muss, gegenüber unserer Redaktion. Mario Himsl ist Leiter des Nachwuchsleistungszentrums in Unterhaching, früher war er für die Zertifizierung der Nachwuchsleistungszentren in der ganzen Republik verantwortlich. "Die Zahlen", sagt Himsl, "sind alarmierend. Wir haben den Anschluss verpasst."

Weit entfernt von der Weltspitze

Am "Projekt Zukunft" werkelt der Verband seit Anfang 2018 schon in kleinen Gruppen und mit einigen Spezialisten. Tobias Haupt kam im Oktober 2018 dazu. Als Leiter der DFB-Akademie verantwortet Haupt den nun verfassten Massnahmenkatalog. Zum Kernteam der Revolution gehören aber auch Meikel Schönweitz, Cheftrainer der U-Nationalmannschaften, Markus Hirte als "Sportlicher Leiter Talentförderung" und Daniel Niedzkowski, der als Leiter des Fussballlehrer-Lehrgangs fungiert.

Dieses Quartett - und natürlich noch eine ganze Reihe anderer wichtiger Personen im Hintergrund - treibt nun jene Reform voran, die den deutschen Nachwuchsfussball aus seinem gefährlichen Dornröschenschlaf wecken soll. Denn: Von der absoluten Weltspitze ist die deutsche Talentförderung und sind die deutschen Nachwuchskicker mittlerweile meilenweit entfernt. Franzosen, Engländer, Spanier, Niederländer oder Belgier sind im letzten Jahrzehnt an Deutschland nur so vorbeigeflogen, die Italiener dürften den DFB mit seinen Talenten mittlerweile auch überholt haben.

Wo bleiben die Toptalente?

Im Sommer 2017 schien das alles noch eine weit entfernte Illusion. Die Nationalmannschaft schickte als amtierender Weltmeister eine bessere B-Mannschaft zum Confed Cup nach Russland und gewann das Vorbereitungsturnier auf die WM ein Jahr später. Fast zeitgleich holte die U21 von Stefan Kuntz den EM-Titel nach Deutschland. Der DFB war also zeitgleich Weltmeister, Confed-Cup-Sieger und holte den wichtigsten Titel mit der wichtigsten Nachwuchsmannschaft. Was sollte also noch schiefgehen?

Zum Beispiel, dass sich fast niemand für die Probleme hinter der Glitzerfassade interessieren wollte. Schon damals war klar, dass das der letzte starke U-21-Jahrgang werden würde. In den U-Mannschaften darunter sank die Zahl an Toptalente von vier, fünf oder sogar sechs pro Jahrgang auf ein, vielleicht zwei. Der DFB und seine Nachwuchsleistungszentren "produzierten" viel gehobenes Mittelmass, Spieler selber Prägung und Denkweisen, den universellen Nachwuchsspieler.

Im DFB-Dokument aus dem Oktober gibt es mehrere hübsch aufbereitete Statistiken, eine davon listet die geschätzten Durchschnitts-Marktwerte der U18- bis U21-Spieler im europäischen Vergleich auf. Unterteilt in die Kategorien Innenverteidiger, Mittelfeldspieler und Stürmer liegen deutsche Talente zwei Mal abgeschlagenen auf dem letzten von vier Plätzen.

Demnach erzielten die begabtesten deutschen Innenverteidiger im Schnitt einen Marktwert von 1,3 Millionen Euro. Spanier aber einen von 4,7, Engländer einen von 5,9 und Franzosen sogar einen von 25,5 Millionen Euro. Fast das Zwanzigfache der deutschen Talente.

In den Hitlisten verschiedener namhafter Publikationen finden sich lediglich Kai Havertz und seit einigen Wochen auch Florian Neuhaus und Florian Wirtz wieder. Drei Spieler zwischen 18 und 23 Jahren, die zu den so genannten "top prospects" gezählt werden. Italiener, Belgier, Niederländer stellen zweistellige Kontingente. Und an der Spitze auch hier neben weit mehr als 20 Brasilianern: Englands Nachwuchshoffnungen und natürlich die Franzosen - die so viele Top-Talente auf den Markt werfen wie kaum eine Nation in der Geschichte des Fussballs bisher und die längst bei einigen der grössten Klubs der Welt spielen.

Nobodys in der U 21

Im letzten EM-Qualifikationsspiel der deutschen U21-Nationalmannschaft dagegen musste Trainer Kuntz eine Mannschaft aus Nobodys aufs Feld schicken. Lediglich drei Spieler der 14 eingesetzten Spieler waren Stammspieler in einer Bundesligamannschaft, das Gros des Teams setzt sich auf Bankdrückern und Zweitligaspielern zusammen. Die besten deutschen Spieler bekommen kaum Spielpraxis auf hohem Niveau, was in letzter Konsequenz auf einige Problem in der DFL beziehungsweise in der Bundesliga hindeutet: Nicht mal drei Prozent aller Einsatzminuten in der Bundesliga gingen in der letzten Saison auf das Konto deutscher U-21-Spieler. Es ist der vorläufige Tiefpunkt einer jahrelangen Talfahrt.

"In der Bundesliga spielen längst mehr ausländische als deutsche Talente. Die Local-Player-Regelung greift hier oft genug ins Leere, sie erzielt nicht den gewünschten Effekt", sagt Himsl. Stattdessen pumpten viele Klubs ihre Kader mit talentierten Teenagern aus dem Ausland voll, die erforderlichen Kontingente der deutschen Spieler werden nur pro forma erfüllt. Einsatzzeiten bekommt ein grosser Teil dieser Kaderspieler mit einem deutschen Pass so gut wie nie.

Scharfe Kritik von Oliver Ruhnert

Ihren Ursprung hat die Malaise in der Ausbildung der Kinder und Jugendlichen. Dort wurde jahrelang geschlampt, falsche Konzepte verfolgt oder richtige Ideen falsch umgesetzt. Jedes Nachwuchsleistungszentrum wurschtelte im Prinzip für sich und vor sich hin, es wurden und werden keine Synergien genutzt. Die Trainerausbildung ist veraltet und nicht zielgerichtet auf die Ausbildung von Kinder und Jugendlichen konzipiert. Die Wettbewerbsstruktur wirkte einschränkend und leistungshemmend, die Förderstrukturen aus NLZ, Stützpunkte und Auswahlmannschaften nicht koordiniert. Und an das Feld von Big Data wagte sich der DFB kaum heran.

Das soll in den kommenden Jahren alles anders werden - stösst aber nicht überall auf Zustimmung. Sehr deutlich hat sich nun schon mehrfach Oliver Ruhnert von Union Berlin geäussert. Ruhnert war vor seiner Zeit als Geschäftsführer in Berlin rund 20 Jahre im Nachwuchs auf Schalke tätig, hält bis heute auch Kontakt zum Amateur- und Breitensport. Es gibt nur wenige in Deutschland, die mehr Einblick in alle Seiten des Geschäfts haben. Besonders die Abschaffung der B- und A-Jugend-Bundesligen und die damit einhergehende Abschottung der Nachwuchsleistungszentren vom Amateurfussball kritisierte Ruhnert scharf.

"Statt sich mit Modellen zur Spielklassenstruktur auseinanderzusetzen oder mit der Frage, wie man für die Kinder Spielzeit generiert, macht man einen radikalen Schnitt zwischen Amateur- und Profisport, zwischen Leistungszentren und Amateurfussball", sagte Ruhnert der "Süddeutschen Zeitung" und monierte auch die Abschaffung des Wettbewerbs unter den Jugendlichen. "Selbstverständlich muss es im ältesten Juniorenbereich als Vorbereitung auf den Erwachsenenfussball auch um Ergebnisse gehen. Auf- und Abstiege gehören da dazu."

Wo sind die kurzfristigen Lösungen?

Ohnehin bleibt ein Kardinalproblem: Bis die Massnahmen überhaupt greifen können, bis sich erste Ergebnisse einstellen, vergehen etliche Jahre. Und kurzfristige Lösungen sind schwierig. Die dritte Liga könnte dafür allerdings ein Schlüssel sein. Ursprünglich war die Liga als eine Art Ausbildungsliga entwickelt worden. Hier sollten junge Spieler den Übergang schaffen aus dem Nachwuchsleistungszentrum hinein in den Erwachsenenfussball der Profis. Nur hemmt der blanke Erfolgsdruck fast aller Klubs auch hier jegliche Entwicklungspotenziale. Die Vereine trauen sich kaum, junge Spieler einzusetzen.

"Die dritte Liga muss zu ihrem Ursprungsauftrag zurückgeführt werden: Sie muss wieder eine Talente-Liga sein. Die Spieler müssen sich auf diesem Niveau ausprobieren können. Wir benötigen dafür mehr Anreize von Verbandsseite, in der Regel monetärer Art. Wer mehr jungen Spielern Einsatzzeiten gibt, muss für diesen Mut belohnt werden. Sonst ist das alles für die Katz‘ und es ändert sich gar nichts", sagt Himsl, der mit Haching diesen Weg schon beschreitet. Aus Zwang, wie er auch zugibt: Im Münchener Vorort fehlt das nötige Geld für teure Verpflichtungen, also setzt der Klub automatisch auf (eigene) junge Spieler.

Vielleicht könnte sogar die Pandemie in naher Zukunft noch eine entscheidende Rolle spielen: Je prekärer die finanzielle Lage der Klubs, desto wichtiger werden Alternativkonzepte. Schon etliche Klubs sind mittlerweile in Turbulenzen geraten, sind unter Zugzwang. Den Mut, in der Not auch auf junge deutsche Spieler zurückzugreifen, bringt aber immer noch nicht jeder auf. Aber vielleicht ändert sich das ja bald.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Mario Himsl
  • Süddeutsche Zeitung: "Ruhnert kritisiert neues DFB-Konzept"
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