Julian Nagelsmann versucht es beim Neuanfang der Nationalmannschaft mit jeder Menge Mut und neuen Ideen, sieht sich aber auch mit alten Problemen konfrontiert. Trotzdem macht das Debüt des neuen Bundestrainers Hoffnung.

Eine Analyse
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Das erste Highlight des Abends setzte Julian Nagelsmann mit seiner Garderobe. Im Holzfäller-Look ging der neue Bundestrainer sein Debüt an und zeigte da schon jenen Mut, den später auch seine Mannschaft an den Tag legen sollte.

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Das 3:1 der deutschen Nationalmannschaft gegen die USA wurde zur gelungenen Premiere für Nagelsmann, die Schwung und Zuversicht für die kommenden Aufgaben geben sollte - ohne dabei aber auch die augenscheinlichen Probleme zu verkennen.

Nach nur vier Trainingstagen im fernen Hartford konnte sich die Leistung der Mannschaft in grossen Teilen sehen lassen, die die vom neuen Trainer geforderte Aktivität und Aggressivität auf den Platz brachte und am Ende damit auch das mindestens ebenso dringend notwendige positive Ergebnis einfuhr.

DFB-Team zeigte unter Nagelsmann in fast allen Bereichen Fortschritte

In fast allen Bereichen zeigte die DFB-Auswahl zum Teil grosse Fortschritte - und Nagelsmann, dass er die Mannschaft in der knapp bemessenen Zeit bis zur Europameisterschaft im kommenden Sommer vielleicht doch noch auf Linie trimmen könnte. Wenn das Lerntempo der Mannschaft ähnlich rasant bleibt wie in den vergangenen Tagen.

Was aber hat sich nun tatsächlich verändert im Vergleich zu Nagelsmanns Vorgänger Hansi Flick? Was macht besonders viel Mut? Und in welchen Bereichen hapert es immer noch? Eine Analyse.

Die Taktik:

Das übergreifende Ziel der ersten beiden Testspiele gegen die USA und in ein paar Tagen gegen Mexiko sei es, eine erste Grundstruktur zu schaffen. Das hat der Bundestrainer in den vergangenen Tagen immer wieder betont. Und das ist Nagelsmann mehr als nur in Ansätzen auch gelungen.

Die deutsche Mannschaft trat in einer recht flexiblen Grundordnung an, im eigenen Ballbesitz in einem 3-4-3, gegen den Ball mit einer Viererkette in der letzten Linie in einem 4-2-3-1. Ebenso auffällig wie interessant war Nagelsmanns Idee von einem asymmetrischen Spielaufbau.

Während sich Rechtsverteidiger Jonathan Tah auf einer Linie mit den beiden Innenverteidigern Mats Hummels und Antonio Rüdiger bewegte, schob Robin Gosens auf der linken Seite ins Mittelfeld mit hoch. Im tiefen Aufbau hielt Deutschland mit den beiden eng angebundenen Sechsern Pascal Gross und Ilkay Gündogan die Abstände sehr klein, um dann mit kurzen Ablagen oder Steil-Klatsch-Stafetten durchs Zentrum in die Spitze zu kommen.

Auf den Flügeln sollten Gosens und Leroy Sane in Eins-gegen-Eins-Duelle geschickt werden, wobei sich hier schon ein erstes Problem offenbarte: Ohne einen nachrückenden Aussenverteidiger auf beiden Seiten fehlte das Hinterlaufen, um über die Flügel auch die nötige Tiefe ins Spiel zu bekommen. Gefährlich wurde es immer, wenn Sane mit dem Ball am Fuss von aussen nach innen zog oder aber Deutschland mit wenigen Kontakten durchs Zentrum kombinierte.

Gegen den Ball war die Struktur auch klar ersichtlich - allerdings haperte es da in der Umsetzung teilweise noch gewaltig. Nagelsmann wählte ein aggressives Angriffspressing mit klarer Mannorientierung, liess die letzte Linie bis in die gegnerische Spielhälfte vorschieben.

Fiel ein Spieler im Pressing durch oder war einen Schritt zu spät, öffnete sich der Raum vor den Innenverteidigern und die USA mit ihren schnellen Angreifern hatten zu viel Platz und Zeit für flinke Attacken. Ähnlich waren die Probleme im Gegenpressing gelagert, das die USA zwei-, dreimal flugs überspielten und gefährlich vor dem deutschen Tor aufkreuzten.

Das waren wilde, hektische Passagen im Spiel, die doch sehr an die Spiele der jüngeren Vergangenheit erinnerten. Aber: Nagelsmann wird von dieser riskanten Methode wohl kaum mehr abweichen, weil aus seiner Sicht die Chancen auf frühe Ballgewinne die Risiken in der Restverteidigung überwiegen. Und diese Ausrichtung auch besser zum Charakter der Mannschaft passt.

Das Personal:

Nagelsmann verzichtete auf grosse Experimente, einzig das Comeback von Hummels in der Abwehrzentrale und Gross auf der Sechs neben Gündogan waren vielleicht nicht von allen Beobachtern erwartet worden.

Einen "absolut besonderen Moment" erlebte Hummels bei seiner Rückkehr in die Mannschaft nach rund zwei Jahren, und zwar "mit mehr Nervosität als ich gedacht habe. Aber das hat mir Spass gemacht, es hat mich sehr erfüllt".

Im Zentrum liess der Bundestrainer wie quasi angekündigt Florian Wirtz und Jamal Musiala ran, der Stuttgarter Chris Führich wurde zum ersten Debütanten unter Nagelsmann, auch Thomas Müller bekam am Ende noch ein paar Minuten.

Für Niklas Süle und Leon Goretzka war zunächst kein Platz in der Mannschaft, die beiden anderen Neulinge Kevin Behrens und Robert Andrich hoffen gegen Mexiko auf ihr Debüt in der Nationalmannschaft.

Das Coaching:

Einer der grossen Kritikpunkte an Hansi Flick in dessen Endphase als Bundestrainer war das überschaubare In-Game-Coaching. Also die Fähigkeit, mit entsprechenden Massnahmen auf ungünstige Spielverläufe zu reagieren und der Mannschaft von aussen neuen Impulse zu geben. Das hat Nagelsmann nach einer eher wilden und hektischen ersten Halbzeit mit ein paar Anpassungen für die zweiten 45 Minuten fast perfekt geschafft.

"In der ersten Halbzeit hatte der Gegner grössere Räume, um auf die Kette zu kaufen oder auch in unserem Rücken zu laufen", sagte Hummels nach dem Spiel bei RTL. "Wir haben dann Anpassungen getroffen, um den Raum nicht mehr so gross werden zu lassen. Und wir waren in der zweiten Halbzeit wesentlich ballsicherer und haben ihnen diese Kontersituationen nicht mehr gegeben."

Der Trainer selbst sah ebenfalls im eigenen Ballbesitz den Schlüssel zu einer deutlich verbesserten, weil kompakteren Defensivleistung seiner Mannschaft. "Ich hatte in der ersten Halbzeit das Gefühl, dass wir zu früh das Spiel entscheiden wollten. Wir haben zu viel Risiko genommen und hatten deshalb zu viele Ballverluste. In der zweiten Halbzeit hatten wir dann mehr Geduld, wir waren deshalb auch gut in den Positionen und hatten mehr Kontrolle. Das war der Unterschied."

Die Widerstandsfähigkeit:

Ein Gegentor bedeutete in vielen der vergangenen Spiele mindestens einen Bruch im deutschen Spiel, bisweilen sogar den Ausfall aller Systeme. Den Rückstand gegen die US-Amerikaner aber steckte das Team insgesamt sehr stabil weg und schaffte sogar die komplette Wende.

Über eine gewisse Ruhe und Gelassenheit und vielleicht auch das Vertrauen in die eigene (Offensiv-)Stärke fand die deutsche Mannschaft schnell wieder in die Spur und zeigte jenen lange vermissten Spielwitz und auch Torgefahr. "Wir haben fussballerisch überzeugt und nicht einen Sieg hingewürgt", so Nagelsmann. "Wir haben fussballerisch einen Schritt gemacht!"

Die Baustellen:

"Wir hatten nicht immer ganz so viel Zugriff und auch individuell müssen wir schon noch ein bisschen zulegen", sagte der Bundestrainer aber auch und deutete die eine oder andere Schwachstelle selbst an.

Die deutsche Nationalmannschaft braucht grundsätzlich wieder mehr Kontrolle über ihre Gegner. Phasen wie in der ersten Halbzeit mit einem wilden Spiel von Strafraum zu Strafraum und quasi ohne Mittelfeld sind kontraproduktiv, die Schwierigkeiten in der Restverteidigung kein Zufall.

Noch bleibt auch die Frage, ob da das Personal zur Spielidee passt. Ob schnellere Verteidiger vonnöten sind, um Konterattacken auch mal abzulaufen. Und wann die Mannschaft mal wieder zu null spielt. Auch Nagelsmann hat die Defensive nicht geschlossen bekommen, nun schon zum siebten Mal in Folge setzte es mindestens ein Gegentor.

Die Ansätze sind da, die hohe individuelle Qualität im Kader auch wieder auszuschöpfen und die Spieler in den jeweils besten Positionen besser zur Entfaltung kommen zu lassen. Aber das benötigt noch etwas Zeit - aber die ist für Nagelsmann und seine Mannschaft sehr knapp bemessen.

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