Der Neustart der deutschen Nationalmannschaft verlief schleppend, die grundsätzliche Richtung stimmt aber. Joachim Löw wird ein wenig Zeit benötigen, um eine neue Mannschaft zu formen - so er sie denn bekommt.

Eine Analyse

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Vielleicht braucht die deutsche Nationalmannschaft nicht nur einen Paradigmenwechsel auf dem Rasen, sondern auch im Bewusstsein ihrer Fans, Gönner, Kritiker und Beobachter.

Seit jeher sind die Ambitionen deutscher Mannschaften auf das Maximum ausgelegt, ganz gemäss dem Motto des mittlerweile ehemaligen Generalsponsors: "Das Beste oder nichts." Nur Siege zählen und natürlich Titel, gelerntes deutsches Anspruchsdenken.

Nach dem historischen Aus bei der Weltmeisterschaft steckt die Nationalmannschaft - vielleicht auch insgesamt der deutsche Fussball - in der Krise. Ein Umbruch steht an.

Mit ausgedientem Personal und ausgedienten Spielansätzen ist der nicht zu bewerkstelligen, weshalb sich der Bundestrainer über ein halbes Jahr nach der Schmach von Russland nun doch dazu durchringen konnte, einen klaren Schnitt zu setzen.

Die von Joachim Löw erhoffte "Trotzreaktion" der Weltmeister-Generation von 2014 blieb aus, was Löw vor zwei Wochen zu der doch etwas überraschenden Demission dreier verdienter Spieler veranlasste.

"Dass man Spieler aussortieren muss, hat sich nicht angedeutet", musste Löw erkennen. Jetzt müssten eben andere in die Verantwortung hineinwachsen.

Deutschland will variabler werden

Mit dem Testspiel gegen Serbien begann dieser neue Zyklus, der im ganz im Zeichen der Qualifikationsrunde zur Europameisterschaft im kommenden Jahr stehen wird.

Es wird ein Testlauf mit Wettbewerbscharakter: Die Spiele gegen die starken Niederlande werden aufschlussreich, sie sind die Highlights der Gruppenphase. Weil aber die beiden Gruppensieger direkt für das Endturnier qualifiziert sind und die restlichen Gegner - Nordirland, Weissrussland und Estland - alles andere als furchteinflössend sind, dürfte die Qualifikation selbst für eine deutsche Mannschaft im Testmodus kein Problem darstellen.

Löw und sein Trainerteam können die Zeit nutzen, um die vielen neuen Ideen miteinander zu verknüpfen und zu einem stimmigen Gesamtbild zu formen.

Der Bundestrainer will seine Mannschaft variabler ausrichten, weg vom totalen Ballbesitzfussball, mit dem Deutschland in Russland mit Karacho gegen die Wand krachte.

Die Spiele in der Nations League gegen Frankreich und die Niederlande haben einen ersten Vorgeschmack geliefert. So richtig soll die neue Marschroute aber erst jetzt eingeschlagen werden.

"Grundsätzlich werden Ballbesitz und Dominanz weiterhin Bausteine unserer Philosophie sein“, sagte Löw auf der ersten Pressekonferenz des Jahres, verwies dann aber auch auf andere Elemente: "Wir brauchen mehr Dynamik, Zielstrebigkeit, Schnelligkeit. Da müssen wir uns verbessern. Das Spiel bei der WM war sehr geprägt von einer Langsamkeit."

Es wird ein wenig dauern

Löw geht deshalb weg vom gesetzten 4-2-3-1 mit zwei klaren Sechsern und einem Zehner davor. Von den defensiven Mittelfeldspielern sind einige nicht mehr da (Bastian Schweinsteiger, Sami Khedira) oder auf anderen Positionen wertvoller (Ilkay Gündogan, Leon Goretzka). Mesut Özil fehlt als Zehner seit seinem Rücktritt ebenfalls.

Das klassische Spielmuster mit einem geduldigen Ballvortrag bis an den gegnerischen Strafraum soll nicht mehr ausschliesslich das Mittel der Wahl sein.

Löw stellt sich für die Zukunft als Grundordnung ein 4-3-3 vor mit einer gemischten Spielausrichtung: Mal im ruhigen Ballbesitz, mal im schnellen Umschaltspiel, um schnell nach Balleroberung Tempo aufzunehmen und Räume zu öffnen.

Die durchaus angespannte Lage der Nationalmannschaft nach dem WM-Aus und dem Abstieg aus der Nations League A verdammt Löw dazu, schnell auch wieder Ergebnisse zu liefern.

Die Partie gegen Serbien deutete schon neue Strukturen an, das Ergebnis entsprach gegen einen ersatzgeschwächten Gegner aber nicht den Vorstellungen.

Es wird eine Weile dauern, um sich aufeinander einzulassen: Die Spieler unter sich, die Spieler auf den Bundestrainer und umgekehrt - und alle miteinander auf die neuen Konzepte.

Und es wird auch nicht von jetzt auf gleich gehen, dass sich in dieser komplett durchgewürfelten Mannschaft eine neue Hierarchie bildet.

Grindel prescht schon wieder nach vorn

Umso überraschender, dass DFB-Präsident Reinhard Grindel in einem seiner zuletzt ebenso zahl- wie wahllosen Statements schon wieder nach vorne geprescht war. Es gehe nun darum, bei der EM 2020 eine Truppe beisammen zu haben, die um den Titel mitspielen kann.

Von Löw oder einem anderen aus dessen Trainerteam waren derart selbstbewusste Töne nicht zu vernehmen - vielleicht auch deshalb, weil die Experten ganz genau wissen, dass es neben allerhand Chancen auch viele Risiken gibt bei diesem Umbruch.

Ein Blick auf den kommenden Gegner Niederlande und dessen jüngere Vergangenheit könnte helfen.

Ähnlich wie die Engländer mit ihrem vielen Geld und die Franzosen mit ihrem unendlich scheinenden Reservoir an Spielern musste die Elftal viele Jahre der Dürre durchschreiten und nach einigen bösen Niederschlägen einen behutsamen, kontrollierten Neubeginn starten.

Das ging auch nicht von heute auf morgen, aber nun sind sie wieder da, die Niederländer. So wie irgendwann auch wieder die deutsche Nationalmannschaft.

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