2018 soll das grosse Jahr von Xherdan Shaqiri werden. Der immer noch erst 26-jährige Schweizer Fussballer gilt weiter als unerfülltes Versprechen. Dabei hat der Spektakelmacher in seiner Karriere bereits jede Menge erreicht.

Eine Analyse
von Fabian Ruch
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Fabian Ruch sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die Szene spielt Anfang Oktober in Feusisberg, dem Teamhotel der Schweizer Fussball-Nationalmannschaft. Pressetermin mit den wichtigsten Akteuren vor den entscheidenden WM-Qualifikationsspielen gegen Ungarn und in Portugal.

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Auch Xherdan Shaqiri sitzt an einem Tischchen im engen, kleinen Raum im ersten Untergeschoss, zusammen mit einigen der führenden Fussballjournalisten des Landes. Xherdan Shaqiri meidet die Medien seit ein paar Jahren, so gut das eben geht als Xherdan Shaqiri.

Heute aber steht er der Presse zur Verfügung. Und es ist ein veränderter Mann, der hier spricht, gereift und doch locker geblieben, vorsichtiger und gleichwohl mit einer unbescheidenen Aura versehen. Es ist ein Shaqiri 2.0, eine Art angepasster Freigeist.

Grosses im Visier

Xherdan Shaqiri ist gut drauf, er lässt einige Sprüche vom Stapel, die sich für herrliche Schlagzeilen eignen. Zum Beispiel: "Die WM-Qualifikation ist für die Schweiz in dieser Gruppe Pflicht."

Ein paar Tage später verliert das zuvor ungeschlagene Nationalteam nach dem fulminanten 5:2 gegen Ungarn in Portugal chancenlos 0:2. Auch Shaqiri taucht gegen den Europameister ab.

Im November dann zittert sich die Schweiz in den Playoffs gegen Nordirland dank eines Eigentores des Gegners in Belfast an die WM 2018. Auch Shaqiri tut sich schwer.

Und doch kann sich eine andere kernige Aussage von ihm im nächsten Sommer bestätigen. "Wir haben eine starke Generation an Spielern und können Grosses erreichen", sagte er in Feusisberg im ersten Untergeschoss. Und: "Bei uns ist jeder Spieler Weltklasse."

Das war natürlich eine gnadenlose Übertreibung. Aber man muss Xherdan Shaqiri verstehen. Er ist in seiner Karriere derart oft angeeckt mit Formulierungen, dass er gerne zu Schutzstatements greift. Gefragt worden war er nämlich, ob er der einzige Schweizer Fussballer mit Weltklassepotenzial sei.

In dieser Kategorie aber gibt es gar keine Schweizer. Nicht Shaqiri, nicht Ricardo Rodriguez, der stagniert hat, nicht den alternden Captain Stephan Lichtsteiner, nicht den tüchtigen Goalie Yann Sommer – und auch (noch) nicht Granit Xhaka, der bei Arsenal London aber relativ zielstrebig auf dem Weg in die Weltklasse unterwegs ist.

Gestrandete Supertalente

Xherdan Shaqiri spielt nicht bei einem Weltklub im mondänen London. Er spielt auch nicht mehr in den Szene-Hotspots München und Mailand. Sein Weg führte von Bayern München über Inter Mailand vor bald drei Jahren nach Stoke-on-Trent in eine ziemlich hässliche Stadt in den Midlands Englands.

Der Stoke City F.C. ist das Auffangbecken gestrandeter Supertalente, die einst vor verheissungsvollen Karrieren gestanden hatten, die riesengrossen Versprechen aber nie einlösen konnten. So gesehen passt Xherdan Shaqiri perfekt in den Premier-League-Mittelmassvertreter-Stoke.

Er sieht das selbstredend anders. Er sagt: "Ich will noch einmal die Champions League gewinnen."

Mit Stoke wird das eher schwierig, das weiss er auch, deshalb beeilt er sich zu erwähnen: "Ich bin noch lange nicht am Ende meiner Karriere. Ich stehe in der Mitte. Und man sagt ja, zwischen 27 und 30 sei das beste Alter für einen Fussballer." 26 wurde Shaqiri am Tag der Niederlage in Lissabon gegen Portugal.

Er hat in den letzten bald zehn Jahren unfassbar viel erlebt, den steilen Aufstieg mit dem FC Basel, bei dem er mit 17 eine Stammkraft war, den Einstand im Nationalteam mit 18, die 14 Titel mit den zwei FCB, zuerst in Basel, später in München bei den Bayern.

Dorthin wechselte er viel zu früh, mit 20, gewann später als Ergänzungsspieler immerhin die Champions League, setzte sich aber nicht durch.

Sein Abstieg über Inter zu Stoke gilt heute als abschreckendes Beispiel für die grössten Talente in der Schweiz.

Granit Xhaka ging smarter vor, der Transfer von Basel zu Gladbach in einen kleineren Klub der Bundesliga erwies sich als perfekt, nach einer Anpassungsphase startete Xhaka durch.

Heute spielt er bei einem Topteam. Shaqiri nicht. Und dennoch sagt er: "Mir gefällt es bei Stoke." Das muss er sagen, klar, und der sagenhafte Bruttolohn von angeblich 45 Millionen Franken in fünf Jahren hilft sicherlich auch über die relative sportliche Tristesse im Niemandsland des britischen Fussballs hinweg.

Magische Momente

Vielleicht tut man Xherdan Shaqiri oft unrecht. Schon immer galt er als Akteur für besondere Momente, diese Eigenschaft hat er ganz gut konserviert. Allerdings eher unfreiwillig.

Magische Augenblicke schenkte er der Fussballnation immer wieder, beispielsweise an der WM 2014 in Brasilien, als er gegen Honduras beim 3:0 alle drei Treffer schoss. Oder zwei Jahre später an der Euro in Frankreich, als er sich im Achtelfinal gegen Polen kurz vor Spielende in der Luft quer legte und mit einem fantastischen Seitfallzieher eines der schönsten Tore der EM-Historie erzielte. Es war wie ein Kunstgemälde, von erhabener Schönheit, ein Kabinettstücklein fürs Geschichtsbuch.

Aber Shaqiri gönnte sich in den letzten Jahren zu viele Pausen. Auf dem Spielfeld. Oder verletzungsbedingt.

Das erzeugte Geraune, ins Visier geriet der Offensivkünstler wegen angeblich unprofessioneller Lebensweise, schlechter Ernährung, heikler Muskulatur. Mächtig sind die Waden des gebürtigen Kosovaren, aber eben auch mächtig anfällig.

Er reagierte erbost über die Vorwürfe, er würde nicht alles dem Sport unterordnen. "Ich lebe sehr professionell", meinte Shaqiri einmal, "und ich wäre auch lieber weniger verletzt."

"Alpen-Messi"

Der kleine Mann mit den grossen Fähigkeiten leidet unter dem hohen Anspruch der Öffentlichkeit. Der frühere Nationalspieler Stéphane Henchoz erklärte in einem Interview mit der "SonntagsZeitung" vor ein paar Monaten: "Barcelona hat Messi, Real Ronaldo und die Schweiz eben Shaqiri." Auch dieser könne mit nur einer genialen Aktion etwas auslösen, was sonst keiner im Team schaffe.

Es war eine nette Aussage, und doch stutzte sie Shaqiri indirekt aufs korrekte Mass. Denn ein Messi und ein Ronaldo ist er längst nicht, wird er nie sein.

Darum spielt er ja auch nicht bei Barcelona oder Real Madrid. Immerhin wurde er schon als "Alpen-Messi" bezeichnet, was einerseits eine sehr wohlmeinende Bezeichnung ist.

Andererseits gibt es überall Messis, den "Kiwi-Messi" in Neuseeland beispielsweise, und nur weil Shaqiri mit 169 Zentimetern Grösse ebenfalls kleingewachsen ist, technische Glanzpunkte zu setzen vermag und an guten Tagen ein überragender Tempodribbler sein kann, ist er sehr weit vom Argentinier Lionel Messi entfernt. Ungefähr so weit wie Stoke im Weltfussball von Barcelona.

Ach, es ist nicht einfach, Xherdan Shaqiri zu sein. Er ist ein Liebling der Spektakelfreunde. Der Werbeindustrie. Der Kinder. Dabei ist er selbst irgendwie noch ein Kind, wobei die Flausen kleiner geworden sind.

Eine feste Freundin etwa aber sah man auf dem Boulevard noch nie an Shaqiris Seite, er wirkt immer noch auf eine merkwürdige Weise rastlos. Shaq, wie er gerufen wird, ist der grosse Unvollendete im Schweizer Fussball.

Die Bühne in Russland

Und so bleibt die riesengrosse Frage, was das Fussballerleben für Xherdan Shaqiri noch bereithält. Er will raus aus der Anonymität bei Stoke, zurück zu einem Branchengiganten.

Seine Leistungen in dieser Saison sind ordentlich, mehr nicht. In einem halben Jahr kann er auf hell erleuchteter Bühne an der Weltmeisterschaft in Russland zeigen, dass er zu viel Höherem berufen ist.

Und wenn Shaqiri sagt, die Mischung aus alten und jungen Spielern im Nationalteam sei hervorragend, stellt sich sofort die Frage: Gehört er zu den Alten oder zu den Jungen?

Shaqiri schmunzelt, überlegt, räuspert sich noch einmal, dann antwortet er: "Ich bin mit 26 noch jung. Aber mit meiner Erfahrung bin ich natürlich ein Leader im Team."

68 Länderspiele hat er bereits bestritten und dabei 20 Tore erzielt, er ist in beiden Disziplinen schnurstracks unterwegs zu helvetischen Bestmarken (Heinz Hermann mit 118 Länderspielen, Alex Frei mit 42 Toren).

Doch dieser grossartige Fussballer Xherdan Shaqiri muss endlich an Konstanz zulegen, um irgendwann zu den Besten der Schweizer Geschichte zu gehören. Sonst wird er selbst am Tag seines Rücktritts noch als jener Spieler gelten, der die hohen Erwartungen nie ganz erfüllen konnte.  © swissinfo.ch

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