Deutschlands Remis gegen Ungarn kann die positive Gesamtbilanz des Jahres kaum trüben: Die DFB-Elf hat sich in allen Bereichen fundamental gewandelt, der Bundestrainer sieht seine Mannschaft auf dem richtigen Weg – aber eben auch noch nicht am Ziel.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Stefan Rommel sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Der Katharsis-Effekt findet sich nicht nur im grossen Feld der Psychologie wieder, sondern ab und zu auch im Fussball. Am 21. November vergangenen Jahres hatte die deutsche Nationalmannschaft im Wiener Ernst-Happel-Stadion den Tiefpunkt ihrer jüngeren Geschichte erreicht. Zwar wurde an diesem Tag nur ein Testspiel verloren (0:2) und dazu noch gegen einen bärenstarken Gegner, trotzdem sass der Stachel tief.

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Wie die österreichischen Spieler mit ihrem deutschen Trainer Ralf Rangnick eine Ehrenrunde liefen, während die deutsche Mannschaft deprimiert in die Kabine schlich, ratlos und desillusioniert nach einer regelrechten Vorführung: Das hat Spuren hinterlassen bei jedem Einzelnen – und im Rückblick vielleicht auch eine ganz neue Energie freigesetzt.

Die Schmach von Wien als lehrreiche Lektion mit kathartischer, also reinigender Wirkung kann jedenfalls fast auf den Tag genau ein Jahr später als Initialzündung interpretiert werden für eine Entwicklung, die kaum einer der deutschen Nationalmannschaft in der Art zugetraut hätte.

Das ganz grosse Happy-End verpasste Deutschland beim 1:1 in Budapest im letzten Spiel vor der Winterpause zwar. Trotzdem bleibt die Erkenntnis, dass sich die Mannschaft samt Trainerteam aus sich heraus revolutioniert hat. "Das späte Gegentor trübt es zwar ein bisschen, trotzdem können wir mit dem Jahr 2024 sehr zufrieden sein und wollen da auch anknüpfen im Frühjahr", sagte Robert Andrich im "ZDF".

Ein letztes Experiment gegen Ungarn

Das abschliessende Spiel der Nations-League-Gruppenphase war sportlich wertlos, die Platzierungen in der Staffel längst vergeben. Weshalb Julian Nagelsmann entgegen seiner zuletzt gewählten Strategie die ganz grosse Rotation anwarf und gleich neun Spieler im Vergleich zum famosen 7:0 über Bosnien Herzegowina tauschte.

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In den letzten zwölf Monaten war Nagelsmann fast schon penibel darauf erpicht, einer Grundordnung, einem System und einem Gerüst innerhalb der Mannschaft so viele Bewährungschancen wie möglich zu gewähren. Die Zeit der Experimente endete mit der ersten Partie des Kalenderjahres bei Vize-Weltmeister Frankreich, in den Testspielen, während der EM und danach in der Nations League haben sich nun Abläufe eingeschliffen.

Im Frühjahr geht es mit den K.o.-Spielen in der Nations League weiter, dann beginnt schon bald auch die Qualifikationsrunde zur Weltmeisterschaft 2026. Deshalb nutzte Nagelsmann in Budapest die Gelegenheit, doch noch einmal etwas zu probieren. In allen Mannschaftsteilen durfte sich frisches Personal beweisen, die Chance genutzt haben aber nur ein paar Spieler.

Nübel punktet eindrucksvoll

Felix Nmecha war nach einem wackeligen Start in die Partie nicht nur wegen seines Treffers eine positive Erscheinung auf der Doppel-Sechs, Leroy Sane hat seinen potenziellen Wert für die Mannschaft ebenso einmal mehr angedeutet, wie auch Serge Gnabry als verkappter Mittelstürmer. Die meisten Pluspunkte aber konnte Alexander Nübel sammeln.

Der Stuttgarter hatte gegen einen deutlich besseren Gegner als es Bosnien war und mit mehr Druck eine grössere Aufgabe als sein Kontrahent Oliver Baumann zu bewältigen und wäre neben Nmecha beinahe zum Matchwinner geworden. Zwar blieb auch Nübel nicht komplett fehlerfrei, in den wichtigen Szenen der Partie aber zeigte er zwei, drei überragende Paraden. Erst Dominik Szoboszlai per Elfmeter mit der letzten Aktion des Spiels und damit auch des Kalenderjahres konnte Nübel überwinden.

In der Torhüterfrage hat sich Nübel damit in eine sehr gute Position gebracht – mindestens. "Die Torhüter werden ja vielleicht auch den Beginn der WM-Qualifikation bestreiten müssen, wenn Marc-Andre (ter Stegen, Anm. d. Red.) bis dahin noch nicht sicher fit sein wird", blickte Nagelsmann schon in die nahe Zukunft und will bis dahin an seinem bisherigen Prozedere festhalten.

"Wir bewerten beide Spiele, aber die Leistung in der Bundesliga zählt mehr. Bis März gibt es noch einige Spiele, es kann viel passieren – auch wenn ich nicht davon ausgehe, dass einer von beiden stark einbricht." Einen Favoriten habe er bereits, verriet Nagelmann. "Ich habe eine Tendenz, die verrate ich aber nicht, weil ich beiden die Chance geben will, sich zu zeigen."

Nagelsmann: "Die Symbiose ist da"

Mehr als diese wichtige Einzelentscheidung stand und steht für den Bundestrainer aber "das grosse Ganze" in den letzten Monaten und im Hinblick auf die WM 2026 im Fokus. "Damit bin ich sehr zufrieden", sagte Nagelsmann am ZDF-Mikrofon.

Zuvor hatte er schon in der Kabine an seine Mannschaft und seinen Betreuerstab appelliert. "Ich habe ihnen gesagt: Ein solch extremes Wir-Gefühl wie hier mit der Mannschaft und dem Staff habe ich noch nie gefühlt. Die Symbiose ist da!"

Und damit die Basis für eine möglichst erfolgreiche Weiterentwicklung. Zwar liest sich das bisher Erreichte durchaus imposant: In 2024 gelangen Nagelsmanns Mannschaft zehn Siege bei vier Remis und der einzigen Niederlage nach Verlängerung im EM-Viertelfinale gegen Spanien.

Die Flut an Gegentoren wurde von im Schnitt über zwei pro Spiel auf 0,66 regelrecht eingedämmt. Siebenmal spielte die deutsche Mannschaft zu null. Und in den Spielen der Nations League waren nur die Schweden – in einer allerdings deutlich schwächeren Gruppe mit schwächeren Gegnern – torhungriger (19 Treffer) als die deutsche Mannschaft mit ihren 18 erzielten Toren.

Wieder nah dran an der Weltspitze

"Das ist schon ein guter Weg", sagte Nagelsmann – wohlwissend, dass der noch lange nicht zu Ende ist. "Vor einem Jahr lagen wir am Boden mit der Heim-EM vor der Brust. Wir glaubten dann zwar schon, dass wir gewinnen können, waren aber noch nicht so sicher, weil alles nicht bei 100 Prozent war. Daher glaube ich schon, dass wir 2026 sehr viel besser präpariert sein werden als wir es 2024 waren."

Dafür müssten er und seine Mannschaft das kommende Jahr aber "genau so angehen". Noch ist nichts erreicht, auch das ist eine Erkenntnis des bald endenden Jahres. Aber die ersten Ziele sind schon sehr nah: Deutschland will erstmals ins Nations-League-Final-Four, also die Endrunde, und da dann auch den Titel holen.

Und mit dem Fernziel der WM 2026 im Blick weiter aufholen zum Kreis der weltbesten Teams. Dass das DFB-Team mit diesen Besten der Besten mithalten kann, hat sie nun bewiesen. Im nächsten Schritt muss sie in der Königsdisziplin reüssieren und diese Mannschaften auch regelmässig wieder schlagen.

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