• Edson Arantes do Nascimento kam aus dem Nichts und führte den Fussball in die neue Zeitrechnung des "schönen Spiels".
  • Nicht nur in seiner Heimat bleibt Pelé deshalb für immer der Grösste.

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Niemand wird wohl mehr herausfinden, wie viele Abhandlungen, Essays, Porträts es über Pelé gibt. Es dürften eine ganze Menge sein, so viele wie über keinen anderen Fussballspieler. Zum König, "O Rei", wurde er ebenso schnell wie zum ersten globalen Superstar des Spiels. Ein 17-Jähriger, der sein Land zum ersten WM-Titel der Geschichte führt, nach etlichen Jahren der Enttäuschungen und der Schmerzen: Das gab es weder vor noch nach Pelé.

Als Teenager hat er gegnerische Abwehrreihen ausgetanzt und alle gängigen Kenngrössen des Fussballs pulverisiert. Mit 15 war Pelé so gut, dass er in der ersten Mannschaft des grossen FC Santos spielen durfte. Mit 16 erzielte er mehr Tore als alle anderen: 36 in 29 Spielen. Mit 17 lenkte er die Selecao zum Titel bei der Weltmeisterschaft in Schweden.

Das war 1958 und der Fussball noch ein ganz anderer, auch in den Medien: TV-Geräte waren damals noch eine Seltenheit. Die Wundertore eines jungen brasilianischen Angreifers kannte man lediglich aus Erzählungen, bewegte Bilder davon bekam die grosse Öffentlichkeit teilweise erst Jahre später zu sehen.

In Schweden wurde damals der Fussball revolutioniert. "Als ich Pelé zum ersten Mal spielen sah, wollte ich meine Fussballschuhe sofort an den Nagel hängen", soll Just Fontaine nach dem Turnier gesagt haben. Der Franzose schoss beim Endturnier 13 Tore, so viele wie bis heute kein anderer Spieler bei einer einzigen WM. In Frankreich sagten sie über Fontaine, er könne wie Jesus übers Wasser laufen. Und doch schien er Lichtjahre entfernt von der Popularität und dem Können eines 17-Jährigen.

Brasiliens Identifikationsfigur

Brasilien war immer der Inbegriff des schönen, aber erfolglosen Spiels. Eine Mannschaft, eine Nation, die immer, wenn es darauf ankam, versagte. Die Schmach der ersten Turniere, das dubiose Ausscheiden gegen Mussolinis Italien, das verlorene Jahrhundertspiel gegen Ungarn 1954 und natürlich die (sportliche) Tragödie vom Maracana: Uruguay, Schiaffino, Ghiggia, 200.000 Fans im Stadion in Schockstarre - die Selecao eilte von einem Tiefpunkt zum nächsten.

Dann kam Pelé, ein schwarzer Junge aus ärmlichen Verhältnissen, der als Schuhputzer zum Lebensunterhalt der fünfköpfigen Familie beitragen musste, machte Brasilien zur Fussballmacht. Das Turnier in Schweden wurde zum Erweckungserlebnis, nicht nur in Brasilien. In der Heimat wurde aus dem Teenager eine Identifikationsfigur und ein Vorbild für alle anderen farbigen Kinder und Jugendlichen.

Die Bewunderung über seine Leistungen auf dem Platz war schier grenzenlos und die Hingabe, mit der seine Landsleute fortan das schöne Spiel und ihre Lichtgestalt geniessen konnten, fast schon erdrückend für eine einzelne Person. Pelé wurde zum Botschafter seines Landes, mehr als jeder Politiker oder Wirtschaftsboss es je vermocht hätte. Die Geschichte vom mittellosen Jungen aus der Favela, der es in die Glitzerwelt des Fussballs schafft als Pionier des neuen, mit Geld überfrachteten Spiels, ist fast schon zu kitschig.

1.283 Pflichtspieltore oder sogar mehr?

In einer der vielen Dokumentationen über den Spieler heisst es, Pelé habe sich als Kind mit reifen Mangos als Ballersatz jene technischen Fertigkeiten angeeignet, dieses legendäre Ballgefühl, das ihn später so viel besser machen sollte als alle seine Gegner und Mitspieler. Pelés freche Tricks, die Antizipationsgabe, die Gewandtheit in den Zweikämpfen, seine unverschämte Leichtigkeit und die unglaubliche Schnelligkeit machten aus ihm einen "Ausserirdischen", wie Italiens Tarcisio Burgnich einmal sagte.

Für den FC Santos spielte er 17 Jahre am Stück und holte 26 Titel. Verbrieft sind in seiner aktiven Karriere 1.283 Pflichtspieltore für Santos, die Selecao und am Ende auch noch Cosmos New York. Allein 127 waren es in einer einzigen Saison für den FC Santos Ende der 50er-Jahre. Es kursieren auch andere Zahlen, von über 1.300 Treffern ist da die Rede, die vielen Freundschafts- und Testspiele der damaligen Zeit gar nicht mit eingerechnet. Pelé war auf dem Platz eine Naturgewalt und so unantastbar, dass ihm die Menschen auch frühe Verfehlungen durchgehen liessen.

Mit der Politik wollte er nie etwas zu tun haben, sondern immer nur spielen, spielen, spielen. Dass im Brasilien der 60er-Jahre ein blutiger Militärputsch das Land auf den Kopf stellte, hunderte Menschen einfach so verschwanden, in Folterkellern gefangen waren oder einfach über dem offenen Meer aus Flugzeugen geworfen wurden, während sich gleichzeitig Diktator Emilio Garrastazu Medici mit der Selecao und ihrem Star Pelé dem Volk präsentierte und den Fussball instrumentalisierte, war jedenfalls nie ein Problem.

Erst Jahrzehnte später, in einer Netflix-Dokumentation anlässlich seines 80. Geburtstags, nahm Pelé rückblickend Abstand und gestand Fehler im Umgang mit der politischen Führung damals ein. "Das grosse Geschenk des Sieges war nicht die Trophäe, sondern die Erleichterung. In diesem Moment wollte ich nicht Pelé sein", sagte er über den WM-Triumph von 1970, den dritten und letzten seiner Laufbahn.

Pelé: "Es bedeutet eine grosse Verantwortung, Pelé zu sein"

Wie das Leben als Lichtgestalt in einem derart fussballverrückten Land wie Brasilien wohl sein musste, können Normalsterbliche noch nicht im Ansatz erahnen. "Dieser ganze Rummel gehört zu meinem Leben. Viele Stars mögen das nicht so - für mich ist das normal", sagte Pelé einmal in einem Interview mit dem Magazin "11 Freunde".

"Es bedeutet eine grosse Verantwortung, Pelé zu sein. Denn ich bin für viele Menschen ein Vorbild. Und natürlich möchte ich niemanden enttäuschen, der an mich glaubt." Also mindestens rund 210 Millionen Brasilianer und die Kleinigkeit von ein paar hundert Millionen mehr auf der ganzen Welt.

Wie extrem die Heldenverehrung in Brasilien war, lässt sich vielleicht am besten in den Worten Romarios, selbst Weltmeister und ein Volksheld, erahnen. Der habe nie ein Idol gehabt. "Aber da ich Brasilianer bin, bin ich wie alle anderen in diesem Land. Da wir gute Brasilianer sind, ist Pelé unser Gott, zumindest ist er meiner. Das Spiel dürfte eigentlich nicht Fussball heissen - es müsste Pelé heissen."

Vergleiche mit dem anderen Grössten aller Zeiten verbieten sich in Brasilien. Und auch Pelé selbst, sonst eher zurückhaltend in seinen Äusserungen, wollte nie einen Zweifel daran aufkommen lassen, wer der wahre König des Spiels sei.

"Maradona? Er war ein grosser Spieler, aber ein negatives Beispiel", sagte Pelé einmal über den Argentinier. "Wen interessiert, was Pelé sagt? Der gehört doch ins Museum", geiferte Maradona zurück. Dass aber Argentiniens schlauster Fussballkopf Cesar Luis Menotti die Debatte für beendet erklärte ("Maradona wird nur dann ein neuer Pelé, wenn er drei Weltmeisterschaften gewinnt und über 1000 Tore schiesst"), ist bis heute mit der grösste Erfolg des brasilianischen über den argentinischen Fussball.

Unzählige Auszeichnungen und Werbe-Ikone

Pelé wurde drei Mal Weltmeister, so oft wie kein anderer Spieler in der Geschichte des Spiels. Er wurde zum Spieler des Jahrhunderts gekürt und zum Weltfussballer des Jahrhunderts, wurde mehrfach für sein Lebenswerk ausgezeichnet und vom Internationalen Olympischen Komitee sogar zum Sportler des Jahrhunderts gewählt - obwohl er nie an Olympischen Spielen teilgenommen hat.

Die anderen Auszeichnungen und Preise waren netter Beifang; irgendwann dürfte Pelé selbst aufgehört haben, sie zu zählen. Aber er hat auch immer verstanden, seine Erfolge und seinen Ruhm fast schon gnadenlos zu versilbern. Pelé wurde zur ersten globalen Werbe-Ikone des Fussballs. Besonders schwer zu überzeugen war er nicht immer bei der Auswahl seiner Werbepartner und der Produkte, für die er sein Gesicht hergab.

Für den Viagra-Hersteller Pfizer erzählte er den Leuten im Fernsehen, was sie schon immer über Sex wissen wollten und dass Erektionsprobleme, nun ja, auch den Besten passieren könnten. Ihm selbst natürlich nicht, aber das war eine andere Geschichte. Aus seinem krausen Haupthaar liess er vor der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien in einem revolutionären Druckverfahren 1283 Diamanten pressen - einen Edelstein für jedes seiner Tore. Veräussert wurden die Juwelen dann für 7500 Dollar das Stück.

Ähnlich wie Franz Beckenbauer in Deutschland blieb Pelé stets ein Reisender des Fussballs. Kurze Ausflüge in die Politik, als Sportminister Brasiliens, blieben ebenso überschaubare Episoden wie seine Bemühungen, dem brasilianischen Fussball nach seiner aktiven Karriere mehr zu geben als "nur" seinen Namen und seine Reputation.

Seine letzten Jahre erlebte Pelé zurückgezogen im Kreise seiner Familie. Noch während der Weltmeisterschaft in Katar liess er seine Gemeinde via Instagram wissen, dass er zu kämpfen gedenke gegen den Darmkrebs. "Ich bin stark, habe viel Hoffnung und setzte meine Behandlung wie gewohnt fort." Diesen letzten Kampf seines Lebens konnte Pelé nicht gewinnen. Am 29. Dezember ist Edson Arantes do Nascimento im Albert-Einstein-Krankenhaus in Sao Paulo im Alter von 82 Jahren verstorben.

Verwendete Quellen:

  • 11 Freunde: Der Fussball, mein Leben und ich: Fussballhelden im grossen Karriereinterview
  • Focus.de: Pelé meldet sich aus Klinik
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