Viel hat nicht gefehlt, und diese Bundesligasaison wäre mit einem Spielabbruch unrühmlich zu Ende gegangen. Der Schiedsrichter brachte die vorerst letzte Erstligapartie des HSV allerdings doch noch vollständig über die Runden - mit Ruhe und Umsicht.

Alex Feuerherdt, Schiedsrichter
Eine Kolumne

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Die regulären 90 Minuten in der Partie des Hamburger SV gegen Borussia Mönchengladbach (2:1) waren um wenige Sekunden überschritten, da dürfte Schiedsrichter Felix Brych innerlich darüber geflucht haben, dass er den Vierten Offiziellen eine Nachspielzeit von zwei Minuten bekanntgeben lassen hatte.

Denn in der Nordkurve des Volksparkstadions begannen einige Dutzend Anhänger der Gastgeber, schwarz qualmende Rauchtöpfe und ohrenbetäubende Böller aufs Spielfeld zu werfen, reichlich Pyrotechnik abzubrennen und so für ein bedrohlich wirkendes Szenario zu sorgen.

Deshalb stellte sich für den Unparteiischen die Frage, ob er die Partie womöglich kurz vor ihrem eigentlichen Ende abbrechen muss.

Der Abstieg der Norddeutschen stand zu diesem Zeitpunkt aufgrund des Wolfsburger 4:1-Sieges gegen den 1. FC Köln fest, was eine kleine Minderheit der Hamburger Fans zu äusserst unschönen Mitteln greifen liess. Konnte, sollte und durfte das Spiel unter diesen Umständen noch fortgesetzt werden?

Ein Blick ins Regelwerk schadet nie: Am Ende der Regel 5, die sich mit den Rechten, Pflichten und Befugnissen des Schiedsrichters beschäftigt, heisst es unter dem Punkt "Zusätzliche Erläuterungen des DFB", Gründe für einen Spielabbruch könnten beispielsweise "Einflüsse von aussen" wie Zuschauerausschreitungen und massive Bedrohungen sein.

Was zumutbar ist, entscheidet der Schiedsrichter

Zugleich wird klargestellt: "Ein Spielabbruch sollte nur erfolgen, nachdem alle zumutbaren Mittel, das Spiel fortzusetzen, erschöpft sind." Was zumutbar ist, liegt dabei im Ermessen des Referees.

Dieser wird seine Entscheidung vor allem von der Frage abhängig machen, ob eine Gefahr für die körperliche Unversehrtheit der Spieler und Unparteiischen besteht und ob sich die Lage bei Ausschreitungen in absehbarer Zeit beruhigen lässt. Dazu wird er, wenn es sinnvoll ist, die Einschätzung von Polizei und Ordnungsdienst einholen.

In Hamburg waren die Sicherheitskräfte offensichtlich gut vorbereitet. Sie brachten, nachdem Felix Brych das Spiel unterbrochen und sich mit beiden Mannschaften an den Spielfeldrand begeben hatte, die Situation bald unter Kontrolle. Der Rauch verzog sich allmählich, genauso wie die Störer, zu denen das restliche Publikum mit Pfiffen und Sprechchören auf Distanz ging.

Vor der Nordkurve sicherten dicht an dicht aufgereihte Polizisten und Ordner das Spielfeld, als der Unparteiische die Begegnung exakt 16 Minuten und 18 Sekunden, nachdem er sie unterbrochen hatte, mit einem Schiedsrichterball wieder aufnahm.

Der Hamburger Torhüter Julian Pollersbeck schlug die Kugel in die gegnerische Hälfte, danach pfiff Brych gleich wieder ab, diesmal endgültig.

Am "grünen Tisch" hätte der HSV wohl verloren

Natürlich hatte diese nur wenige Sekunden dauernde Spielfortsetzung nach einer mehr als viertelstündigen Unterbrechung etwas Groteskes. Aber es war die einzige Möglichkeit, die Partie regulär zu Ende zu bringen.

Ein Spielabbruch hätte mutmasslich dazu geführt, dass die Begegnung für den HSV am "grünen Tisch" als verloren gewertet worden wäre. Das hätte angesichts der unrühmlichen Bilder sicherlich so mancher begrüsst, doch von solchen moralischen Erwägungen darf sich ein Schiedsrichter nicht leiten lassen.

Er hat in einer Situation wie im Volksparkstadion in erster Linie darüber zu befinden, ob die Fortführung des Spiels eine Gefahr darstellt. Das hat Felix Brych nach einer zumutbaren Wartezeit aus nachvollziehbaren Gründen verneint.

Brych hat besonnen und umsichtig gehandelt

Überhaupt leitete der deutsche WM-Referee dieses brisante Spiel besonnen und umsichtig. Dabei unterstützte ihn nach zehn Minuten massgeblich sein Video-Assistent Felix Zwayer, der in dieser Funktion ebenfalls beim Turnier in Russland eingesetzt werden wird.

Denn als der Gladbacher Denis Zakaria den Ball im eigenen Strafraum eindeutig absichtlich mit dem Arm spielte, war Brych im entscheidenden Moment die Sicht durch Lewis Holtby verdeckt, der den Schuss auf das Tor der Gäste abgegeben hatte.

Deshalb gab es den fälligen Elfmeter für die Hamburger erst, nachdem Zwayer die Szene überprüft und der Unparteiische sich auch selbst ein Bild gemacht hatte.

Nach einer Stunde forderten auch die Gäste einen Strafstoss, doch Brych und Zwayer kamen überein - wiederum zu Recht -, dass dem Handspiel von Gotoku Sakai nach einem Schuss von Oscar Wendt keine Absicht zugrunde gelegen hatte.

Unromantischer Video-Assistent in Leverkusen

In Leverkusen, wo Hannover 96 gastierte und mit 2:3 verlor, verhinderte der Einsatz des Video-Assistenten unterdessen ein Stück Fussballromantik.

In der 82. Minute hatte Schiedsrichter Guido Winkmann beim Stand von 3:0 nach einem Zweikampf zwischen Ihlas Bebou und dem Leverkusener Karim Bellarabi im Strafraum der Niedersachsen zunächst auf Strafstoss für die Hausherren erkannt.

Während diese Entscheidung - wie jeder Elfmeterpfiff - in der Kölner Videozentrale überprüft wurde, wechselte Bayer 04 ein letztes Mal Stefan Kiessling ein, der seine Karriere beendet. Der 34 Jahre alte Stürmer sollte dann auch gleich den Strafstoss ausführen.

Er stand schon am Elfmeterpunkt bereit, als Winkmann sich auf Anraten aus Köln die Szene in der Review Area noch einmal anschaute - und sah, dass Bebou den Ball gespielt hatte.

Deshalb nahm er seine Entscheidung zurück, und Kiessling blieb ein Abschiedstor verwehrt. Regelgerecht war das ohne Frage. Aber auch furchtbar unromantisch.

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