Sexuelle Belästigungen und Missbrauch erschüttern den amerikanischen Fussball - ein erneuter Skandal für den Sport. Sechs Jahre lang sollen Vorwürfe nicht ernst genommen worden sein. Warum das keine Überraschung ist und was das für Deutschland bedeutet.

Tamara Keller
Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht der Autorin dar. Hier finden Sie Informationen dazu, wie wir mit Meinungen in Texten umgehen

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Es fühlt sich an wie eine Dauerschleife: "Frauenfussball in den USA in Aufruhr", "Schwere Vorwürfe im US-Fussball", "Missbrauchsskandal" - so lauten die Titel deutscher Medien zu einer erneut entfachten MeToo-Debatte in der National Women’s Soccer League (kurz NWSL) - der amerikanischen Frauenfussballliga. Während viele Medien das, was passiert ist, als einen "neuen Missbrauchsskandal" beschreiben, kann ich nur mit den Schultern zucken. Überraschend ist das für mich nicht. Im weltweiten Sport herrscht eine Struktur, die so einen Machtmissbrauch begünstigt.

Sexueller Missbrauch im US-Fussball: Eine Recherche änderte alles

Sechs Jahre lang sollen den Erzählungen von Spielerinnen rund um sexuellen Missbrauch und Belästigung nicht geglaubt worden sein. Die entscheidende Wendung brachten die veröffentlichten Recherchen von "The Athletic" Anfang Oktober. Darin hatten Sinead Farrelly und Mana Shim, zwei ehemalige Spielerinnen der Portland Thorns, über das grenzüberschreitende Verhalten ihres ehemaligen Trainers Paul Riley gesprochen. Riley wurde einen Tag später entlassen.

Zudem wurden drei weitere Trainer*innen anderer Vereine aus ähnlichen Gründen ihres Amtes enthoben. Auch die Chefin der Liga, die mindestens seit April von den Vorwürfen wusste, trat zurück. Inspiriert von den Geschehnissen in den USA, äusserten sich auch Spielerinnen aus Venezuela und Australien zu missbräuchlichem und übergriffigem Verhalten von Trainern.

Seit die MeToo-Debatte angestossen wurde, hat sich in der Gesellschaft verändert, wie wir über Sexismus und Machtmissbrauch und die Strukturen dahinter sprechen. Trotzdem wird noch zu häufig so getan, als sei das nun kein Problem mehr. Gerade in Deutschland wird auch schnell von "Verdachtsberichterstattung" gesprochen. Obwohl auf dem Weg zur journalistischen Veröffentlichung viele Quellen und Fakten vorher überprüft werden.

Es durchdringt strukturell die Gesellschaft

In den USA hat sich das als die Sozialreportage oder das "Inequality-Reporting" schon fest etabliert und agiert auf hohem investigativen Niveau. Der bekannteste MeToo-Fall aus dem Sport, der von einem Medium aufgedeckt wurde, ist sicherlich der der 250 Turnerinnen, die vom amerikanischen Mannschaftsarzt belästigt worden waren. Ein Fall, der durch die vielen Zeuginnen eindeutig war.

Sexismus und Missbrauch, das passiert nicht nur im Sport. Erst in diesem Jahr entstand die Bewegung #DeutschrapMeToo und kürzlich legten Recherchen des "Spiegel" das Muster hinter missbräuchlichem und belästigendem Verhalten eines Comedians offen. Das ist etwas, was strukturell unsere Gesellschaft durchdringt. Was im Umkehrschluss natürlich bedeutet: Es passiert auch im Sport.

Was alles im Sport passiert

Die Berichterstattung - auch in Deutschland - ist voll von Machtmissbrauch im Sport.

  • Gerade mal acht Monate ist es her, dass ebenfalls der "Spiegel" (Bezahlinhalt) durch Recherchen einen Missbrauchsskandal rund um den Bundestrainer im deutschen Leistungsschwimmen aufdeckte.
  • Im November 2020 berichtete die "Süddeutsche Zeitung" über sexuellen Missbrauch in der Yoga-Szene.

Und um zu beweisen, dass das nicht erst seit gestern ein Problem ist: Wissen Sie noch, dass die amerikanische Nationaltorhüterin Hope Solo öffentlich machte, dass Sepp Blatter sie als FIFA-Chef begrapschte? Konsequenzen für den Täter hatte das keine. Vielleicht ist das auch einer der Gründe, warum mich die Berichterstattung aus den USA mittlerweile so kaltlässt. In den sieben Jahren, in denen ich mich mit Gesellschaft, Frauen und Sport beschäftigt habe, ist mir das schon sehr häufig begegnet. Im weltweiten Vergleich ist mir auch besonders der Missbrauchsskandal im afghanischen Frauenfussball im Kopf geblieben.

Warum der Sport besonders betroffen ist

Was am aktuellen Fall in den USA so heftig wirkt, ist die Dauer, bis den Betroffenen geglaubt wurde: sechs Jahre. Das hat vielleicht damit zutun, dass der Sport noch etwas extremer von Machtstrukturen durchdrungen ist, als unsere Gesellschaft. Das fängt schon zwischen Sportler*innen und Trainer*innen an, geht aber hoch bis zu dem oder der Verbandspräsident*in.

Je ranghöher, desto lauter ist das Schweigen, um sicherzugehen, dass der Verband funktioniert. In der Mehrheit sind solche Positionen auch noch von Männern besetzt. Historisch hängt das damit zusammen, dass bei der Entstehung des Sports Frauen nicht immer gleichberechtigten Zugang zu allen Sportarten hatten. Das wirkt sich bis ins Jetzt aus.

Oftmals schützen in so einer Struktur Männer Männer. Besonders häufig sind vom sexuellem Missbrauch Frauen betroffen. Das heisst aber nicht, dass Männer nicht von Missbrauch betroffen sind. Und das heisst auch nicht, dass sich Frauen nicht auch am Schweigen beteiligen - wie die zurückgetretene NWSL-Verbandspräsidentin Lisa Baird.

Es muss auch nicht immer der grosse Skandal sein. Die Ausübung von Macht und Einschüchterungsversuchen fängt schon im Kleinen an: Zum Beispiel bei Funktionären, die über mehr als eine Stunde zu spät zu Verhandlungen kommen und dann sowas sagen, wie: "Warum sitzen wir eigentlich mit euch hier? Ihr Frauen habt doch eh nichts verdient. Ihr spielt uns kein Geld ein." Diese Szene hat Almuth Schult in der ZDF-Reportage "Zeit für die Offensive" beschrieben.

Missbrauchs-Fall im Profifussball erschüttert die USA: Klub schmeisst Trainer raus

Schwere Vorwürfe gegen Paul Riley: Frühere US-Fussballerinnen werfen dem Trainer sexuelle Nötigung vor. In einem Artikel des Portals "The Athletic" berichten zwei Ex-Spielerinnen von entsprechenden Erlebnissen.

Durch Wissenschaft bestätigt

Mittlerweile gibt es auch Studien, die den sexuellen Missbrauch im Sport aufgreifen: Von .2500 Menschen aus dem Breitensport und 1.800 Leistungssportlern haben mehr als ein Drittel der Befragten gegenüber des Universitätsklinkums Ulm angegeben, sexuell übergriffige Dinge im Sport erlebt zu haben. Drei Prozent der Befragten gaben an, schwerste Taten mit Penetration erlebt zu haben. Laut Recherche der ARD wird die Zahl von Missbrauchsopfern im deutschen Sport auf 200.000 geschätzt.

Mittlerweile beschäftigt sich auch eine Untersuchungskommission der Bundesregierung mit dem Thema. 2019 wurden mehrere Betroffene in diesem Rahmen angehört. Viel hat sich seither nicht getan. Eigeninitiative zeigte aber die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN): Sie hat einen Betroffenenrat gegründet.

Die Vereinigung der Spielerinnen in den USA (NWSLPA) wünscht sich so etwas Ähnliches. Sie prangert an, dass die Strukturen, um das Schweigen über Missbrauch zu brechen, fehlen. Es gebe keine Anlaufstelle, an die man sich anonym wenden könne. Ernst genommen zu werden, sei dadurch erschwert.

In Deutschland soll es eventuell bald so eine Anlaufstelle geben: Die Untersuchungskommission hat eine Machbarkeitsstudie für ein Zentrum für Safe Sport veranlasst. Im Rahmen derer wird geprüft, ob sich so eine Anlaufstelle umsetzen lässt. Im Dezember soll es ein Ergebnis geben.

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Verwendete Quellen:

  • ZDF: Dokumentation "Frauen in die Offensive"
  • ARD: Dokumentation "Das grosse Tabu"
  • spiegel.de: Vorwürfe sexualisierter Gewalt gegen Schwimm-Bundestrainer
  • theathletic.com: ‘This guy has a pattern’: Amid institutional failure, former NWSL players accuse prominent coach of sexual coercion
  • sueddeutsche.de: Was ans Licht kam
  • Netflix: Athlete A
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