- Gerade im Hinblick auf die anstehende umstrittene WM in Katar monieren viele das kränkelnde und von Korruption durchzogene System Fussball.
- Im Interview spricht die Sportjournalistin Alina Schwermer über neue Ansätze für den Sport.
- Ausserdem erklärt sie, wie man ihrer Meinung nach mit der WM in dem Golfstaat umgehen sollte.
Frau Schwermer, Ihr Buch "Futopia" beschäftigt sich ausführlich mit Ideen, die das bestehende System Fussball vollkommen umkrempeln würden. Wie sind Sie auf das Thema gekommen?
Alina Schwermer: Es hat mich wahnsinnig geärgert, dass es so wenige Gedanken darüber gibt, wie man den Fussball anders gestalten kann. Das hat mir in der öffentlichen Debatte sehr gefehlt. Der Gedanke hinter dem Buch ist, dass das doch nicht alles sein kann. Unser Politik- und Wirtschaftssystem ist in einer ganz grundlegenden Krise. Es ist wichtig, diese Probleme auch im Fussball struktureller zu denken. Man muss an den grossen Hebeln ansetzen.
Was genau stört Sie am aktuellen Ist-Zustand? Oder was stört Sie am meisten?
Ich finde wichtig, dass man den Fussball klüger kritisiert, als das aktuell der Fall ist. Oft ist es etwas Diffuses, worüber sich die Leute ärgern. Da regt man sich auf über hohe Profigehälter bei den Männern, über sogenannte Scheichs und über tanzende Maskottchen. Es gibt eine Handvoll wichtiger Probleme im aktuellen Fussball, die man genauer klarziehen muss. Das eine ist Demokratieverlust, also die Tatsache, dass immer mehr Entscheidungsmacht geballt wird in den Händen von immer weniger Menschen. Anders als zum Beispiel in den 1980er-Jahren. Das Fussballsystem als solches belohnt und fördert Autokratie, das ist eine grosse Gefahr.
Was sind weitere Probleme?
Das zweite Problem ist, dass gesellschaftliche Mittel, die in den Fussball fliessen, unklug und ungleich verteilt werden. Da gibt Borussia Dortmund zum Beispiel in zehn Jahren 1,3 Milliarden Euro für Transfers aus, die überhaupt nicht nötig wären. Das sind unsere gesellschaftlichen Gelder, die vergeudet werden. Das dritte Problem ist die Verantwortung für die Klimakatastrophe, die vielen nicht in der Dramatik bekannt ist. Die Reichen des Fussballs tragen massiv dazu bei. Ein Beispiel: Eine einzige Yacht von Roman Abramowitsch stösst im Jahr mehr aus als 1.400 Durchschnittsbürger. Das vierte Problem ist eines, über das überhaupt nicht gesprochen wird, nämlich dass Fussball ein System ist, das nur Sieg und Niederlage belohnt. Es geht nicht um Kooperation oder um Kreativität, nur um Dominanz und Auslese – das prägt Menschen und die Gesellschaft. Das fünfte Problem schliesslich ist die Wettbewerbsstruktur. Man redet von einem Leistungsfussball, in Wirklichkeit ist es aber ein Fussball, der nicht Leistung belohnt, sondern es wird beispielsweise der Klub belohnt, der zufällig in einer Grossstadt ist oder guten Zugang zu Sponsoren hat und der noch einen Investor gefunden hat. Mit Belohnung von guter Leistung hat das nichts zu tun.
Wie könnte ein besserer Fussball aussehen?
Es ist wichtig, dass wir anders belohnen. Aktuell wünschen wir uns vielleicht vom Fussball, dass er nachhaltig und demokratisch ist und dass er der Gesellschaft einen guten Beitrag leistet. All das wird aber nicht belohnt. Belohnt wird nur der sportliche Erfolg der Mannschaft. Wenn ich einen ethischen Fussball haben will, muss ich den Fussball auch so strukturieren, dass ethisches Engagement mit Punkten belohnt wird. Vereine, die etwa nachhaltig sind oder soziale Arbeit mit Mädchen und jungen Frauen oder viel Breitensport ermöglichen, müssen in der Tabelle mit Punkten belohnt werden. Ein zweiter Aspekt ist, dass wir anfangen, die Wirtschaft zu demokratisieren. Wir leben zwar in einer demokratisch organisierten Politik, aber nicht in einer demokratisch organisierten Wirtschaft. Wir können als Gesellschaft nicht darüber verfügen, welche Gelder in den Fussball fliessen und wohin dort. Wenn wir in dieser Systemkrise das Ruder überhaupt noch rumreissen wollen, geht das nicht im Kapitalismus. Man muss also mit dem Fussball darüber verhandeln, welche Mittel ihm eigentlich zustehen und wofür.
Welche der Ideen wäre Ihrer Meinung nach am einfachsten umzusetzen?
Grundsätzlich sind die Ideen, die einfach oder schnell umzusetzen sind, meistens nicht die Ideen, die viel verändern. Schnell umzusetzen wären aber mehr Beteiligung und Gleichberechtigung, zum Beispiel von Frauen im Hinblick auf medizinische Versorgung, Kinderwunsch und Versicherung im Fussball. So etwas liesse sich verhältnismässig einfach umsetzen und hätte eine grosse Wirkung für Frauen im Fussball. Wenn wir etwas an der Art und Weise verändern wollen, wie Fussball als Geschäft und gesellschaftliches Gut funktioniert, müssen wir an den eben erwähnten grossen Problemen arbeiten. Es ist wichtig, zu betonen, dass wir dafür nicht mehr so viel Zeit haben. Viele im Fussball haben das noch nicht verstanden. Die haben nicht verstanden, dass wir, um die Klimakatastrophe einigermassen unter Kontrolle zu halten, noch ungefähr zehn Jahre Zeit haben. Der wachstumsorientierte Fussball, wie er aktuell ist, kann nicht weiter existieren. Es braucht einen neuen Entwurf für Fussball. Eine leichte Änderung, die billig viel bewirkt, gibt es dabei leider nicht.
"Player Points System": Spielerinnen bekommen einen Punktwert zugeschrieben
Der FC Bayern hat seit einem Jahrzehnt ein Abo auf die Deutsche Meisterschaft. Was würden Sie tun, um den Wettbewerb wieder spannender zu machen?
Das kann man relativ einfach machen. Man muss allerdings zwischen zwei Dingen unterscheiden: Dazwischen, ob Konzepte prinzipiell funktionieren, und der aktuellen Situation, dass mächtige Player wie der FC Bayern Veränderungen entgegenstehen. Auch hier ist es wichtig, den Fussball grundsätzlich klüger zu strukturieren, weil wir ansonsten immer die Opposition von diesen mächtigen Grossklubs haben werden. Das ist auch das grosse Problem bei der Umverteilungsdebatte von TV-Geldern. Ein charmantes Konzept, mit dem man schnell Erfolge erzielen könnte, kommt aus Australien und heisst "Player Points System". Das beruht darauf, dass man Mannschaftsstärken reguliert. Jeder Spielerin in einer Liga wird dabei gemessen an ihren Fähigkeiten ein Punktwert zugeschrieben. Die Klubs dürfen dann jeweils in ihrem Kader nur einen Maximalwert an Punkten, also an Qualität, haben. Ich kann mir also nicht beliebig viele Spitzenspielerinnen in den Kader holen. Man kann da viele zusätzliche Regelmechanismen einführen. Zum Beispiel könnten Klubs aus strukturschwachen Regionen einen Punktevorsprung bekommen. Punktevorsprung in dem Sinne, dass sie sich mehr Qualität in den Kader holen dürfen.
Wer entscheidet dort, wer wie viele Punkte bekommt?
Das entscheidet die Liga. Sie gibt die Einteilung vor. Wir sind sehr gut darin geworden, den Fussball detailliert zu vermessen. Anhand dieser Statistiken kann man dann die Bewertung der Spieler und Spielerinnen vornehmen. Da liefern auch die einen oder anderen bekannten Videospiele eine Vorlage. Hier ist es im Gegensatz zur Gehaltsobergrenze kaum möglich, das System zu betrügen. Und die Spitzenspielerinnen werden zentral bezahlt, jeder kann sie sich leisten.
Kylian Mbappé von Paris Saint-Germain soll ein Jahresgehalt von rund 83 Millionen Euro bekommen. Zudem soll der Stürmer, nur für seine Vertragsunterschrift, eine Prämie von rund 125 Millionen Euro erhalten haben. Wäre die hierzulande oft diskutierte Gehaltsobergrenze das Allheilmittel für mehr Gerechtigkeit im Fussball?
Mit einer Gehaltsobergrenze lässt sich das nicht eindämmen. Die vier Ligen, in denen weltweit die höchsten Gehälter gezahlt werden, haben allesamt eine Gehaltsobergrenze (die US-Ligen in den Sportarten American Football, Basketball, Eishockey und Baseball; Anm.d.Red.). Das ist das plakativste Beispiel dafür, wie schlecht diese Obergrenze wirkt. Wenn Gelder von überall in den Wettbewerb fliessen, ist es ganz natürlich, dass sich die Spieler ihren Anteil daran erstreiten. In den US-Ligen zum Beispiel wurde immer wieder auch mal gestreikt. Es ist nicht möglich, Spieler unter einem bestimmten Anteil zu bezahlen, weil sie sich sonst weigern, anzutreten. Viele Untersuchungen zeigen übrigens, dass diese Gehaltsobergrenze keinen Einfluss auf die Gleichheit in US-Wettbewerben hat. Dort herrscht zwar mehr Chancengleichheit, aber das liegt daran, dass die Ligen geschlossen sind. Die sind ausgeglichener als offene Ligen.
Was wäre eine Alternative?
Wir müssen die Verantwortung und die Macht darüber übernehmen, welche Mittel wohin verteilt werden. Beispielsweise könnte man ein finanzielles 50+1 einführen. Das bedeutet, dass ein Klub mindestens 51 Prozent der Einnahmen von Mitgliedern und Fans bekommt. Ausserdem könnte man Werbebeschränkungen vornehmen, sodass man zum Beispiel nur noch bestimmte ethische Sponsoren zulässt oder ganz anders finanziert. Wenn man den Spiess umdreht und sagt, dass nicht der Fussball der Arbeitgeber der Gesellschaft ist, sondern umgekehrt die Gesellschaft die Arbeitgeberin, kann man selbst bestimmen, welche Mittel im Fussball überhaupt sinnvoll sind. Das ist überfällig.
Debatte um Katar-WM "wird zu naiv geführt"
Wie stehen Sie zur anstehenden WM in Katar? Ein erwartbares, nicht mehr abwendbares Übel oder grösster Skandal in der Geschichte der Fifa?
Ich würde mich hüten vor diesen Superlativen. Die Proteste gegen Katar und die Solidarisierung mit den Arbeitern ist sehr wichtig. Die Fifa bekommt massiven Gegenwind für das, was sie da tut. Es ist gut und neu, dass Arbeiter aus Katar hier eine Stimme bekommen. Und die Tausenden Toten in direktem Zusammenhang mit dem Turnier sind tatsächlich eine neue Dimension. Das Problem ist aber, dass diese Debatte zu naiv geführt wird. Oft hat die Empörung falsche Gründe, wenn man zum Beispiel Katar hernimmt als Sinnbild für Kommerz und fehlende Tradition. Das ist aber falsch, weil auch dort seit den 1950er-Jahren Fussball gespielt wird. Ausserdem ist auch die Stellung Europas im Weltfussball durch nichts anderes als Kapital entstanden, indem man sich Spieler aus aller Welt einkauft. Ein zweites Problem ist, dass die Thematik statt einer Kapitalismuskritik nationalisiert wird: das böse Katar. Man spricht jetzt über Menschenrechte, aber bei den nächsten Gastgebern USA, Kanada und Mexiko muss man auch viele Dinge menschenrechtlich kritisieren, was kaum passieren wird.
Wie sieht es mit der kommenden Männer-EM 2024 aus? Die findet in Deutschland statt.
Auch wenn beispielsweise bei der Männer-EM 2024 in Deutschland gespielt wird, laufen da Spieler in Trikots auf, die unter dramatischen Bedingungen in Südostasien produziert werden. Unser Wohlstand und Fussballsponsoring basiert am Ende oft auf ähnlichen Mechanismen der Schuldknechtschaft, moderner Sklaverei und Billigstlöhnen, die wir aber ausgelagert haben. Es ist wichtig, auch das zu kritisieren in dieser Debatte. Ein Staat wie Deutschland kann sich deshalb schöne Turniere leisten, weil wir ausbeuten, durch unseren Konsum zerstören und dann noch dafür sorgen, dass die Leute von ausserhalb der Festung eher ertrinken, als teilhaben zu dürfen. In der Empörung über dieses Turnier steckt also auch viel Heuchelei. Als Drittes wird zu wenig über die Folgen, zum Beispiel von Boykott gesprochen. Ein Generalboykott ist nicht unbedingt hilfreich für die Menschen in dem betroffenen Land. Viele kritische Arbeiter sprechen sich sogar dagegen aus. Die Stimmen vor Ort werden also oft zu wenig angehört. Man spricht auch zu wenig darüber, was eigentlich erreicht werden soll und wie man es erreichen will. Statt den Fernseher auszuschalten, ist es wichtiger, darum zu ringen, den Fussball klüger zu strukturieren. Dazu gehören dann auch Menschenrechtskriterien bei der Vergabe von Turnieren.
Ein oft genanntes Argument für die WM in Katar ist, dass nun eine grosse Aufmerksamkeit auf dem Land liegt und damit der Druck, Dinge zum Guten zu ändern, zunimmt. Andere sagen, dass nach der WM alles wieder so sein wird wie davor. Wie sehen Sie das?
Ich glaube nicht, dass der Zustand in Katar nach der WM wieder völlig so wird, wie er davor war. Es gibt Dinge, die erreicht worden sind, auch wenn sie bei Weitem nicht ausreichen. Zum Beispiel darf die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) in Katar zum ersten Mal in den Golfstaaten überhaupt ein Büro unterhalten. Es gibt einen Mindestlohn und es wurden Schlichtungsorganisationen gegründet. Natürlich ist das alles nicht genug, aber es sind Dinge, die nicht passiert wären, wenn es nicht diesen internationalen Druck gegeben hätte. Aktivistinnen und Aktivisten in Autokratien sind darauf angewiesen, dass es Druck von aussen gibt und dass sie international eine Plattform bekommen. Das ist erst möglich durch solche Turniere. Gleichzeitig ist es aber so, dass vieles, was in Katar passiert, ein Feigenblatt ist und dass es nach der WM wieder Rückschritte geben wird. Der Fussball ist nicht so mächtig, dass er innerhalb eines Jahrzehnts ein Land komplett umdrehen kann. Das möchte die Fifa aber ja auch gar nicht. Dort herrscht Korruption, Autokratie und Vetternwirtschaft. Die hat mit einer funktionierenden Demokratie nichts zu tun. Statt immer nur auf Katar zu zeigen, müssen wir auch den Blick auf die Organisation, die ganz oben steht, werfen.
Fernseher bei der WM ausschalten? Laut Schwermer eine "populistische Forderung"
Wie sollten Medienschaffende nun mit der WM umgehen?
Aus Sicht der Medien ist es wichtig, kritisch zu berichten, genau hinzusehen und Menschen, die Gegenwehr leisten, eine Plattform zu bieten. Nicht mit dem ersten Anpfiff nur noch auf Fussball zu gucken. Das finde ich wichtiger als die populistische Forderung, den Fernseher während der WM auszuschalten. Da überschätzt man die Wirkung, die man in Deutschland als Person hat. Und Personen aus anderen Ländern, beispielsweise Nepal, sehen die WM ganz anders, weil viele Menschen dort von dem Turnier leben. Man sollte nicht glauben, dass die ganze Welt das Narrativ teilt, das gerade in Westeuropa herrscht. Die grossen Organisationen wie die Fifa oder auch der Deutsche Fussball-Bund gehen heuchlerisch mit diesem Turnier um. Natürlich wussten sie, anders als sie jetzt tun, schon immer von den schlechten Menschenrechtsbedingungen in Katar. Und natürlich ist ihnen das egal. Man braucht in Zukunft bestimmte Menschenrechtskriterien bei der Durchführung von Turnieren, es müssen allerdings leistbare Kriterien sein. Man kann nicht erwarten, dass eine Autokratie sich für den Fussball in eine Demokratie verwandelt. Wichtig ist ausserdem die Demokratisierung der Fifa. Man stelle sich vor, wie Turniere vergeben würden, wenn alle Mitglieder aller nationalen Verbände wählen könnten. Dann ist Korruption bei der Vergabe nur noch sehr schwer möglich.
Was erwarten Sie von den Fans hinsichtlich der WM?
Für Fans ist es wichtig, dass man in die Diskussion miteinander geht. Es ist nicht so wichtig, ob man sich entscheidet, das Turnier im Fernsehen zu verfolgen oder nicht. Wichtiger ist, über einen sinnvollen Fussballentwurf zu sprechen. Und mit konkreten Forderungen dafür zu kämpfen, dass der Fussball besser werden kann, als er aktuell ist. Teils passiert das durchaus durch dieses Turnier.
Was kann oder darf man von den Spielern im Hinblick auf die WM erwarten?
Spieler oder Sportler grundsätzlich stehen heute unter einem grossen Erwartungsdruck bezüglich politischer Äusserungen. Hier lauern wahnsinnige Fallstricke. Ich finde es richtig, wenn Spieler sich mehr äussern würden, als es momentan der Fall ist. Es wäre wichtig, dass die Spieler anfangen, sich mit dem Fussball, in dem sie sich bewegen, auseinanderzusetzen. Das hat aber auch wieder mit den Strukturen zu tun. Das sind Jungs, die seit dem Alter von zehn Jahren in Nachwuchsleistungszentren gesessen haben und die sechs Tage die Woche nichts anderes getan haben ausser Fussball zu spielen. Die müssen in diesem System mit einem Tunnelblick durch die Welt gehen. Sie haben nicht die Fähigkeit erworben, nach links und rechts zu sehen. Dieses System schadet auch den Menschen, die darin Erfolg haben. Ich glaube nicht, dass man Spieler zwingen sollte, sich politisch zu äussern. Man sollte sie immer wieder damit konfrontieren, aber Menschen haben unterschiedliche Talente. Nicht jeder muss sich in der Aussenpolitik von Katar auskennen.
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