Seit einigen Jahren ist Ex-Nationaltorhüter René Adler als TV-Experte im Einsatz. Im Sommer arbeitet der 39-Jährige bei der EM für das ZDF.
Wir haben im Vorfeld des Turniers mit
Herr Adler, was ist anstrengender: Fussball-Profi oder TV-Experte?
René Adler: Das ist eine gute Frage. Beides ist ein schöner Beruf, aber angesichts der ganzen Tragweite und der Verantwortung ist es anstrengender, Fussball-Profi zu sein. Als Profi bist du verantwortlich für das, was du machst. Das finde ich anders und anstrengender als "nur" über andere zu reden. Als TV-Experte musst du die Leistungen anderer einordnen, stehst aber gefühlt nicht selbst im Feuer. Das ist immer eine etwas einfachere Position, weshalb ich sagen würde, dass der Job als Profi schwieriger ist.
Gibt es etwas, das Sie an dem Job überrascht hat? Womit Sie im Vorfeld nicht gerechnet hätten?
Nein, nicht wirklich, denn ich habe mich auf den Job intensiv vorbereitet, weil ich einen gewissen Anspruch an das habe, was ich tue. Es ist generell meine Haltung, dass ich mich in eine Thematik einarbeite und versuche, gut vorbereitet zu sein. Deswegen war mir schon bewusst, dass das nicht einfach mal so nebenbei geht und das Fachwissen, das ich als ehemaliger Profi habe, alleine nicht reicht. Deswegen war mir relativ schnell klar, dass ich die Medien täglich verfolge, dass ich viele Gespräche führe, um eine fundierte Einschätzung vornehmen zu können. Ich sehe das aber nicht nur als Vorbereitung auf Spiele oder Turniere, sondern ich habe Spass daran, mir Wissen anzueignen. In dem Fall in einem Tätigkeitsfeld, in dem ich mich mein ganzes Leben schon bewege und was meine Leidenschaft ist.
Haben Sie vorher darüber nachgedacht, welchen Stil Sie verfolgen wollen oder hat sich das automatisch ergeben?
Ich glaube, dass es nicht richtig ist, wenn man sich das vornimmt, wie man sein möchte. Denn dann bist du nur eine Kopie, und die Kopie kann nie so gut sein wie das Original. Ich hatte aber schon immer ein Faible für Günter Netzer und
Den Zuschauerinnen und Zuschauern mitgeben können, wie sich ein Spieler fühlt
Es gibt durchaus Ex-Profis, die gerne Schlagzeilen produzieren …
Man sollte die Perspektive eines Fussballprofis nie ausser Acht lassen, dabei aber den Zuschauerinnen und Zuschauern die Zusammenhänge darlegen und erklären. Ich wollte nie nur derjenige sein, der polemisch und populistisch draufschlägt, um damit Schlagzeilen zu generieren. Auch wenn das von dem einen oder anderen Sender heutzutage gerne gesehen und vielleicht sogar gewünscht wird, um damit eine Reichweite zu erzielen. Das war aber nie mein Weg, und von dem bin ich auch nicht abgerückt. Dabei bin ich aber immer kritisch und lege den Finger in die Wunde, wenn es sein muss. Es ist mir wichtig, dass ich nie vergesse, dass ich auch mal Spieler war. Und dass ich den Zuschauerinnen und Zuschauern mitgebe, wie sich ein Spieler fühlt.
In Zeiten von Social Media kann Kritik heutzutage schon mal unter die Gürtellinie gehen. Wie erleben Sie das als Experte?
Man muss dazu sagen, dass es zu meiner aktiven Zeit noch kein Instagram gab. Ich hatte dementsprechend nie das Problem, dass ich mich nach einem Spiel, in dem ich weniger gut gespielt oder einen Fehler gemacht hatte, in den sozialen Medien mit Hasstiraden auseinandersetzen musste. Ich bin da auch sehr froh drüber, weil ich es schrecklich finde, dass man sich hinter der Anonymität verstecken und dann so etwas rauslassen kann, ohne Flagge zeigen zu müssen. Es ist stattdessen eine Art der Feigheit. Diese Entwicklung finde ich ganz schlimm. Ich bin froh, dass ich vor dieser Entwicklung gespielt habe. Natürlich trifft es mich heute manchmal auch in einer gewissen Form, denn auch als Experte kannst du es nie allen recht machen.
Umgang mit Kritik und Social Media
Wie gehen Sie mit Kritik generell um?
Es gibt Menschen, die finden mich gut. Es gibt definitiv auch Menschen, die sagen: "Der labert zu viel, der redet Quatsch." Ich glaube, dann ist es wichtig, sein Ding durchzuziehen. Natürlich bin ich immer offen für konstruktive Kritik. Das meine ich total ernst. Dann denke ich darüber nach und bewerte sie. Ich habe kein Problem damit, Fehler zuzugeben. Aber Pöbeleien über Social Media überlese ich. Es kann sich keiner davon frei machen, dass diese Art der "Kritik" einen trifft. Denn wenn man sich gut vorbereitet, einfach gut sein und ein gutes Produkt abliefern will und dann beleidigt wird, ist das nicht fair.
Wenn wir zum Sportlichen kommen: Julian Nagelsmann hat seinen Vertrag als Bundestrainer verlängert. Hat Sie das überrascht?
Ich war positiv überrascht, dass er sich jetzt für die Vertragsverlängerung entschieden hat. Ich hätte mir auch gut vorstellen können, dass er den Job bei einem grossen Verein übernimmt, denn es dürfte gerade im Sommer sehr viele offene Stellen geben. Stattdessen hat er sich dazu entschieden, das Projekt Nationalmannschaft die nächsten Jahre zu begleiten.
Ist Nagelsmann der richtige Bundestrainer?
Das wissen wir jetzt noch nicht. Was wir aber wissen: Er ist einer der besten Trainer, die wir in Deutschland haben. Das hat er auf seinen Stationen bewiesen. Er ist ein absoluter Top-Trainer mit einem einzigartigen taktischen Fussball-Fachverständnis. Er hat natürlich noch Entwicklungspotenzial, das steht ausser Frage, er ist schliesslich noch ein junger Trainer. Ich glaube, dass ihm auch die Erfahrungen bei seinen Stationen in Hoffenheim, bei RB Leipzig und beim FC Bayern helfen werden. Zum Beispiel, wie es in München auseinandergegangen ist. Und auch die harte Anfangszeit bei der Nationalmannschaft war lehrreich, als er erstmal einen auf den Deckel bekommen hat, dann aber Entscheidungen unter Druck getroffen hat, die in den letzten beiden Spielen funktioniert haben. Ich glaube, dass er in seiner noch jungen Karriere bereits sehr viele verschiedene Facetten erlebt hat, die ihn geprägt haben und bei seiner Weiterentwicklung helfen werden. Und deshalb bin ich auch froh, dass wir so einen Top-Trainer für die Nationalmannschaft haben.
Was erwarten Sie von ihm?
Dass er die Mannschaft entwickelt. Eine Mannschaft, die eine gute Mischung aus erfahrenen und jungen, talentierten Spielern für die Zukunft hat. Dass er den Übergang nach der Europameisterschaft einleitet, dabei zum Beispiel die Position im Tor neu bekleidet. Dass er die neuen deutschen Tugenden vereint. Dass er eine neue Mannschaft aufbaut, die über die nächsten Jahre in jedem Turnier um den Titel spielen kann. Das sollte zumindest unser Anspruch sein.
Ist das DFB-Team nach zuletzt zwei Siegen rechtzeitig wieder in der Spur? Oder ist das eher eine Momentaufnahme?
Grundsätzlich bin ich froh, dass es so ist. Stellen wir uns mal vor, was hier los gewesen wäre, wenn die beiden Spiele auch noch verloren gegangen wären. Es ist doch viel schöner, wenn man mit Optimismus in ein Turnier geht. Wir wollen eine geile Zeit haben in Deutschland. Das ist auch für uns als Land eine super Möglichkeit, uns als sehr gute Gastgeber zu zeigen. Wie wir das auch 2006 beim Sommermärchen waren. Ich habe es viel lieber, dass wir die beiden Spiele gewonnen und eine positive Grundstimmung haben, denn aus so einer Stimmung heraus kann man viel mehr entwickeln.
Alle wünschen sich ein Sommermärchen 2.0. Warum erleben wir eines?
Ich persönlich habe richtig Bock darauf, auch nur in Ansätzen ein ähnliches Turnier zu erleben wie 2006, bei dem alle Menschen auf der Strasse sind, wir einen tollen Sommer haben und alle friedlich miteinander umgehen. Es steht in der heutigen Zeit über allem, dass wir ein friedliches Turnier haben, ohne grosse Vorkommnisse, und dass die Fans aus den unterschiedlichen Nationen verbindend miteinander agieren. Und wenn am Ende die deutsche Nationalmannschaft auch noch Erfolg hat – ob nun Platz drei, zwei oder gar als Europameister – dann wäre das perfekt. Möglich ist es.
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Worauf kommt es dabei an, welche Faktoren spielen eine Rolle für den Erfolg?
Das hängt viel mit dem Turnierverlauf zusammen. Wie man in der Gruppe mit der Schweiz, Schottland und Ungarn in das Turnier kommt, aber auch mit dem Momentum, mit Glück. Im Endeffekt liegt es an der Mannschaft, mit einem guten Turnierstart dieses Momentum aufzunehmen und mitzunehmen in das Turnier. Denn das wird ganz, ganz wichtig sein, um eine gewisse Euphorie in unserem Land aufzubauen, die das Team dann auch tragen kann.
Die Erfolge von Bayer Leverkusen und VfB Stuttgart beflügeln
Es gibt ja jetzt schon so eine zarte Euphorie nach dem grossen Pessimismus der vergangenen Monate. Wie hält man die jetzt hoch bis zum Turnierstart?
Ich glaube, dass das von ganz alleine kommt. Hinter den Kulissen wird in der Hinsicht akribisch gearbeitet. Ich glaube aber, dass die Phänomene Bayer Leverkusen und VfB Stuttgart sehr viel dazu beitragen, und beide werden im Kader eine grosse Rolle spielen. Mein Gefühl ist, dass es für die neutralen Fans total geil ist, dass mal ein anderer Klub Deutscher Meister ist. Und dass es richtig cool ist, dass es Bayer Leverkusen ist, weil sie endlich diesen Stempel Vizekusen ablegen konnten. Ausserdem gibt bis zum EM-Start noch viele Events. Wir haben noch das DFB-Pokalfinale. Wir haben die Champions League, die Europa League, wo deutsche Protagonisten eine grosse Rolle spielen. Das kann helfen. Denn danach geht es schon los mit der EM.
Nagelsmann hat mit seinem letzten Kader durchaus überrascht. Wie fanden Sie die Mischung und was glauben Sie, wie der EM-Kader am Ende aussehen wird?
Ich denke, dass er die richtige Mischung finden wird, und die letzten Ergebnisse haben schon gezeigt, dass der Trend stimmt. Ich gehe schon davon aus, dass im finalen Kader die eine oder andere Überraschung zu sehen sein wird, aber die wird er gut begründen können.
Was ist denn Ihr Tipp als TV-Experte: Wie wird das DFB-Team am Ende abschneiden?
Es hängt natürlich vieles von der Konstellation in den K.-o.-Spielen ab. Man kann Pech haben und im Achtel- oder Viertelfinale auf einen potentiellen Final-Gegner treffen. Ich bin aber positiv und hoffe, dass die Deutschen es bis in Halbfinale schaffen, und von dort aus ist alles möglich!
Über den Gesprächspartner:
- Der ehemalige Nationaltorhüter René Adler (39) ist während der EM 2024 als neuer Experte im "ZDF-Morgenmagazin" und im "ZDF-Mittagsmagazin" im Einsatz. Von 2002 bis 2012 war er Torwart von Bayer 04 Leverkusen, wechselte dann 2012 zum Hamburger SV und 2017 zum 1. FSV Mainz 05. Adler stand zwischen 2008 und 2013 zwölfmal im Tor der deutschen Nationalmannschaft.
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