Kein anderer deutscher Spieler hat so viele wichtige Titel errungen wie Toni Kroos. In der Bewertung seiner Karriereleistung tun sich aber auch die Experten schwer. Woran liegt das?
Toni Kroos ist ein Fussballspieler, der so gut und genau passen kann, wie kaum ein anderer auf der Welt. Alleine das hebt ihn in den Stand eines Weltklassespielers. Und wenn man sich die verunglückten Eckball- oder Freistossversuche unzähliger seiner Profi-Kollegen Wochenende für Wochenende so zu Gemüte führt, hat es den Anschein, Kroos betreibe bisweilen eine andere Sportart.
Als er ihn zum ersten Mal bei einem Training der Bayern-A-Jugend gesehen habe, wusste
29 grosse Titel in 15 Jahren
Seitdem ist eine Menge passiert. Genauer gesagt hat Kroos in den 15 Jahren danach 29 Titel eingefahren mit den Bayern und Real Madrid und 2014 einen nicht ganz unbedeutenden auch mit der deutschen Nationalmannschaft. Seit dem 28. Mai 2022 ist er mit fünf Champions-League-Titeln der erfolgreichste Deutsche in diesem Wettbewerb. Dazu kommen unter anderem noch je drei Meisterschaften in München und Madrid.
Was unweigerlich zu der Frage führt, ob Toni Kroos womöglich der grösste deutsche Spieler aller Zeiten sein könnte. Jedenfalls ist er anpassungsfähig wie nur wenige auf diesem Niveau. Kroos hat auf allen zentralen Mittelfeldpositionen gespielt, und er hat es geschafft, dort immer seine Stärken einzubringen und seine Schwächen - so gut es eben geht - zu kaschieren. Er hat den Stilwandel bei Real Madrid mitgemacht, das sich zumindest in den grossen Spielen gegen die mächtigsten Gegner selbst eine andere Philosophie verschrieben hat.
Real war seit jeher eine Ballbesitzmannschaft und deshalb passgenau zugeschnitten auf einen Spieler wie ihn. Mit dem Ball am Fuss gehört Kroos zu den Grössten seiner Zeit, was ihm Respekt bei den Mitspielern, Ehrfurcht von den Gegenspielern und der Presse und auch eine gute Portion Spott seiner Kritiker einbrachte.
Querpass-Toni oder genialer Gestalter?
Die Geschichte vom "Querpass-Toni" wird sich seit Jahren erzählt, und ganz von der Hand zu weisen ist das auch nicht. Kroos dosiert seine riskanten Zuspiele nur anders als andere Spieler das vielleicht tun, wägt mehr ab. Das vereinfacht das Spiel für den Betrachter – aber eben auch für seine Nebenleute, die dann wieder mutigere Momente erzeugen.
Kroos bereitet noch eine Spur mehr jene Aktionen vor, die andere dann durch ein Dribbling oder eine Flanke wiederum für andere vorbereiten. Würde der Fussball-Statistiker endlich auch auf die Idee kommen und wie in anderen Sportarten den vorletzten Pass vor einer Grosschance oder einem Torerfolg akribisch notieren: Kroos wäre wohl einer der Besten überhaupt.
Und um den Gedanken vom Querpass-Toni noch mehr zu mildern, vielleicht noch diese Statistik: Gegen Liverpool hat Kroos den grossartigen Xavi überholt in der Rubrik "Pässe ins letzte Drittel". 1.430 Mal schickte Kroos in Champions-League-Spielen eines jener Zuspiele in die gefährlichste Zone vor dem gegnerischen Tor und damit mehr als die anderen Passmaschinen Xavi (1.421), Xabi Alonso (1.386), Cesc Fabregas (1.160) oder Sergio Busquets (1.141). Seine Passquote in diesem besonders stark frequentierten und umkämpften Spielabschnitt beträgt sagenhafte 89 Prozent.
Und um auf Reals eher abwartenden, reaktiven Spielstil in den grossen Champions-League-Spielen zu kommen: Keine andere Mannschaft hatte zwar allenfalls mittelmässig viele hohe Balleroberungen, also solche tief in der gegnerischen Hälfte – und trotzdem so viele Torabschlüsse in Folge dieser Ballgewinne. Real hat sich zu einer herausragenden Umschaltmannschaft entwickelt, die aus jedem vierten Ballgewinn auch einen schnellen Torabschluss schaffte. In Europas Top-5-Ligen waren die Königlichen damit einsame Spitze. Und oft genug war es ein erster Pass von Kroos, der die Offensivaktion erst einläutete.
Die Jahre auf allerhöchstem Niveau, in verschiedenen Wettbewerben, bei zwei der grössten Klubs des Planeten, in der deutschen Nationalmannschaft und all die Erfolge: Es spricht einiges dafür, dass Toni Kroos der grösste deutsche Spieler der Geschichte sein kann. Aber grösser als Fritz Walter? Uwe Seeler? Franz Beckenbauer? Gerd Müller? Als Lothar Matthäus? Diese Spieler haben nicht nur Epochen geprägt, sondern auch den Fussball ihrer Zeit mit ihrem Spiel – und das nicht nur in Deutschland.
Ikonen waren und sind das. Auch Jahrzehnte später spricht man von ihren Heldentaten und Erfolgen. Toni Kroos dagegen vollbringt sein Werk eher im Stillen und seit etlichen Jahren auch fernab der deutschen Öffentlichkeit in Spanien. Dort gilt er womöglich deutlich mehr als eine Stütze dieses Real Madrid als das in Deutschland der Fall ist. In seiner Heimat war und ist die Einschätzung eingetrübt.
Führungsfigur in einer schwächeren Phase
In der Goldenen Generation der Nationalmannschaft war er einer unter Einigen. Selbst nach seinem besten Spiel – im WM-Halbfinale gegen Brasilien – wurde mehr über
Aber die beste Phase des deutschen Fussballs war da schon wieder vorbei. Es folgten eine mittelprächtige Europameisterschaft, das blamable WM-Aus in Russland und die vercoachte EM wiederum drei Jahre später – die dann Kroos' schnellen Rücktritt zur Folge hatte. Davor war er einige Male angeeckt mit den Medien und seinen Mitspielern, galt immer als ein wenig miesepetrig und vielleicht auch von oben herab. Und wurde auch aufgrund seines Spielstils plötzlich angreifbar.
Die anderen grossen Nationen heimsten die Titel ein, und der ehemalige Bundestrainer Joachim Löw wich von seiner Philosophie des Ballbesitz- und Positionsspiels immer noch ein Stückchen mehr ab. Unter den vielen flinken Spielern im Kader war Kroos immer derjenige für die Struktur im Spiel – oder der Bremser, je nach Sichtweise.
Harsche Kritik von Uli Hoeness
"Der Toni Kroos hat in diesem Fussball nichts mehr verloren, er passt mit seinem Querpass-Spiel nicht mehr in den Fussball." Das rief ihm
Vielleicht spielte da auch noch Hoeness' Enttäuschung über das Finale dahoam von 2012 eine Rolle und wie sich Kroos damals vor dem Elfmeterschiessen drückte und die Bayern dramatisch wie selten zuvor verloren. Das traf aber vor allem den Nerv der Zeit, und es traf auch Kroos, der sich Sticheleien dieser Art schon lange nicht mehr gefallen lässt. Er schoss zurück, so wie er jetzt auf die überzogenen Debatten um sein abgebrochenes Interview nach dem Champions-League-Finale zurückschoss. Und dass ihm die "L‘Equipe" gegen Liverpool nur drei von zehn möglichen Punkten gab und als "grösste Enttäuschung auf Real-Seite" einstufte, dürfte Kroos herzlich egal sein.
Die Krux bei Toni Kroos
Nur einmal hat er sich ziemlich verrannt: Die geplanten Gehaltskürzungen bei Real im Zuge der Corona-Pandemie wollte Kroos zunächst nicht mittragen und auf einen Teil seines Salärs verzichten. Immerhin konnte er den Schaden noch einigermassen gering halten, nachdem er in den sozialen Medien zurückgerudert war. Aber Ansehen hat ihm das sicher auch kaum beschert. In Spanien stand der Vorwurf der "Gefühlslosigkeit" im Raum.
Das ist die Krux bei Toni Kroos: Die öffentliche Anerkennung konnte mit den überragenden Erfolgen nie im selben Tempo mithalten. Eine abschliessende, einhellige Bewertung fällt deshalb selbst den sogenannten Experten ähnlich schwer, wie einen Freistoss fünfmal in Folge im Kreuzeck zu versenken. Wobei: Toni Kroos könnte das.
Verwendete Quellen:
- sportbuzzer.de: Uli Hoeness kritisiert Löw-Taktik und rechnet mit Toni Kroos ab: "Art zu spielen ist total vorbei"
- 11freunde.de: Der Zehnifizierer
- faz.net: "L'Équipe" kritisiert Kroos und auch Klopp
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