Spanien erlebt ein Jahr mit vielen Höhen und Tiefen, zeigt aber zumindest sportlich, dass es lernfähig ist. Gegen starke Schwedinnen gelingt ihnen erstmals der Einzug ins Finale einer Weltmeisterschaft.
Als Olga Carmona sich in der 89. Minute ein Herz fasste und den Ball nach einer flach ausgespielten Ecke in Richtung schwedisches Tor wuchtete, hatten sich nahezu alle bereits auf die Verlängerung eingestellt. Ein Spiel auf Augenhöhe, ein Spiel mit zwei grundsätzlich unterschiedlichen Ansätzen – und deshalb auch ein Spiel, das bis zur Schlussphase für wenig Spektakel sorgte.
Auf der einen Seite die Schwedinnen, die bei diesem Turnier abermals zur Höchstform aufliefen und die es offenbar wie kaum eine andere Nation verstehen, sich auf Grossereignisse vorzubereiten. Zweimal Silber bei den Olympischen Spielen, ein dritter Platz bei der WM 2019 sowie das Halbfinale bei der vergangenen Europameisterschaft: Schweden gehört in den letzten Jahren fast immer zum engen Kreis der Favoriten.
Nicht alle haben damit gerechnet. Trotz der Erfolge in der Vergangenheit, trotz eines breit aufgestellten Kaders: Die Vorbereitung auf das Turnier lief suboptimal. Niederlagen gegen Australien (0:4) und Dänemark (0:1) sowie die Unentschieden gegen Deutschland (0:0) und Norwegen (3:3) lösten etwas Pessimismus aus.
Schweden: Defensiv stark, offensiv ausbaufähig
Aber die Schwedinnen waren wieder auf den Punkt da und machten auch gegen Spanien das, was sie besonders auszeichnet: als Team funktionieren. Kaum ein Nationalteam auf der Welt agiert gegen den Ball derart diszipliniert.
Spanien lief immer wieder an und fand durchaus Lücken im schwedischen Bollwerk. Doch bevor sie diese wirklich nutzen konnten, schlossen die schwedischen Spielerinnen sie wieder. Mit viel Laufarbeit und grossem Aufwand.
Einzig die offensiven Umschaltsituationen blieben diesmal zu oft ungenutzt. Diese messerscharfen Angriffe, die den USA und letztlich auch Japan so wehgetan haben. Es fehlte die Präzision und dementsprechend auch die Durchschlagskraft, die es gebraucht hätte, um Spanien rauszuwerfen.
Zumal Spanien, allen Klischees zum Trotz, diesen Kampf der unterschiedlichen Philosophien nicht nur angenommen, sondern auch den Tick cleverer ausgespielt hat. Denn statt sich mit Kurzpässen am tiefen Abwehrblock festzubeissen, wählte man andere Mittel: Standards, Fernschüsse und auch mal die hohen und langen Bälle. Spanien fand einen guten Mix aus spielerischer Überlegenheit und rabiateren Mitteln, die es in grossen Spielen oft braucht.
Spanien erholt sich von Klatsche gegen Japan
Noch bei der 0:4-Niederlage gegen Japan in der Gruppenphase dachten viele, dass es auch diesmal nicht reichen würde, um weit zu kommen. Zumal schon die Zeit vor der Weltmeisterschaft keine einfache war. 15 Spielerinnen zogen in den Streit mit dem Verband und schliesslich auch in den Streik. Drei von ihnen versöhnten sich nicht rechtzeitig mit den Verantwortlichen des Nationalteams.
Mit Patri Guijarro und Mapi Leon fehlen deshalb zwei Weltklassespielerinnen und Säulen des Teams. Hinzu kommt der immer noch nachwirkende Kreuzbandriss von Alexia Putellas. Gegen Schweden stand sie erstmals bei diesem Turnier in der Startelf der Spanierinnen. Doch ihr Einfluss war überschaubar. Nur 15 ihrer 21 Pässe kamen an (71,4 %), nur 33-mal war sie überhaupt am Ball und gleich elfmal verlor sie den Ballbesitz.
Jorge Vilda reagierte bereits nach 57 Minuten und wechselte die Weltfussballerin aus. All das wäre in Summe für die meisten Nationalteams schlicht zu viel, um erfolgreich zu sein. Spanien aber schüttelte alle Zweifel und womöglich auch die Selbstzweifel ab. Dass sie erstmals das Finale einer Weltmeisterschaft erreichen, erscheint unter diesen Bedingungen nochmal grösser.
Spanien lernt dazu: Symbiose aus Kontrolle und Risiko
Es scheint, als hätte dieses Team sich endgültig gefunden. Dass sie gut Fussball spielen können und sich gegenseitig auf dem Platz überragend verstehen, war vorher klar. Auch bei der EM vor einem Jahr zeigten sie trotz des Aus im Viertelfinale gegen England, wie gut sie sind. Jede Spielerin weiss zu jedem Zeitpunkt, was die anderen zehn Mitspielerinnen tun und tun werden.
Der spanische Fussball ist eine Symbiose aus taktischer Komplexität, wenn es um die Raumbesetzung geht, und Intuition sowie Individualismus, wenn es darum geht, auch mal vom eigenen Plan abweichen zu müssen und für Überraschungen zu sorgen. Eine Symbiose aus Kontrolle und Risiko.
Schweden verteidigte stark, verschob immer schnell und kam trotzdem nicht immer hinterher. Mehrfach schafften die Spanierinnen es nicht nur in den gefährlichen zentralen Raum zwischen gegnerischer Abwehr und dem Mittelfeld, sondern sie erspielten sich dort auch Überzahlsituationen. Vor allem gegen Ende der Partie wurde der Druck auf Schweden dadurch riesig.
Und defensiv? Der Kritikpunkt an der schwedischen Harmlosigkeit in der Offensive ist angebracht. Auf der anderen Seite ging Spanien immer ein kalkuliertes Risiko. Wohlwissend, dass jeder Konter das Aus besiegeln könnte, standen sie im Zentrum mit und ohne Ball sehr kompakt. Schwedens Wege in die Offensive waren dadurch weiter, als ihnen lieb sein konnte.
Ist Spanien bereit für den grossen Wurf?
Trotz dieser Unterschiede und leichter spanischer Vorteile war dieses Halbfinale eines, das in jede Richtung hätte kippen können. War die Partie zunächst lange geprägt durch einen Abnutzungskampf auf hohem Niveau, wurden gegen Ende schliesslich auch jene belohnt, die für das reine Spektakel eingeschaltet haben.
In der 81. Minute führte eine der spanischen Flanken zu einem Abpraller, den die eingewechselte Salma Paralluelo verwertete. Schweden musste nun in die Offensive und dafür mehr Risiko eingehen. Die kurz zuvor neu ins Spiel gekommene Lina Hurtig legte eine Flanke anspruchsvoll auf Rebecka Blomqvist ab und es stand 1:1.
Die Ausgangslage war wiederhergestellt und die Verlängerung schien unausweichlich. Doch eben in jenem Moment, als womöglich auch auf dem Platz viele durchatmen wollten, packte Olga Carmona ihren wuchtigen Distanzschuss aus. Keine Schnörkel, keine Haken, keine Kombination – eine in den Rückraum abgelegte Ecke und die Power aus dem Fussgelenk der 23-Jährigen.
Momente, die Spanien im letzten Jahr fehlten. Vielleicht haben sie, rein sportlich betrachtet, aus der Not der Umstände eine Tugend gemacht. Vielleicht haben sie nach dem bitteren EM-Aus auch einfach die richtigen Schlüsse gezogen. Den Ball schön und mit Raumgewinn laufen lassen können sie immer noch. Doch es scheint so, als hätten sie eine neue Zielstrebigkeit entwickelt. Jetzt ist es für sie nur noch ein Schritt. Der ganz grosse Wurf war noch nie so nah.
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