Sarina Wiegmann läuft strahlend auf ihre Spielerinnen zu. Nach dem gewonnenen Halbfinale umarmt sie eine nach der anderen und lüpft sie währenddessen etwas hoch. Sowohl Trainerin als auch Nationalspielerin teilen die Freude und diesen Moment.
Wenn das spanische Team gewinnt, sehen diese Bilder anders aus: Nach dem Sieg gegen die Niederlande gingen einige Videoclips viral. Zu sehen ist, wie Jorge Vilda über das Fussballfeld stapft, lächelt - aber keine seiner Spielerinnen geht auf ihn zu.
Stattdessen gehen sie ihm aus dem Weg, machen einen grossen Bogen um ihn, um vorbeizukommen und möglichst schnell eine andere Mitspielerin freudig zu umarmen. Als Weltfussballerin
Titelgewinn wird zum Politikum
Es sind zwei Szenarien, die unterschiedlicher für das anstehende Finale nicht sein könnten. Sie zeigen auch: dieses Finale ist aufgeladen mit einer höheren Bedeutung als reiner sportlicher Erfolg. Es ist das Finale zwischen Trainerin mit gesunder Beziehung zu ihren Spielerinnen versus Trainer, der sich toxisch gegenüber dem eigenen Team verhalten haben soll.
Vergangenen Herbst wandten sich die drei Kapitäninnen Alexias Putellas, Irene Paredes und Patri Guijarro mit einem vertraulichen Brief an den spanischen Fussballverband, um die Probleme, die das Nationalteam mit Vilda hatte, anzusprechen: Einmischen in die Privatssphäre - sie durften ihre Hotelräume nicht abschliessen, ihnen seien nicht genügend Pausen eingeräumt worden, weil Vilda selten das Team rotierte, fehlendes medizinisches Personal, auch fehlende professionelle Strukturen wie Ernährungswissenschaftlerinnen, fehlende Spielanalysen und taktisches Verständnis und mangelhaftes Training.
Eine lange Liste an Vorwürfen, die der Verband ignorierte und sich stattdessen öffentlich zu Vilda bekannte. Ende September gingen daraufhin 15 Spielerinnen in einen Streik mit Rücktritt aus der Nationalelf und veröffentlichten einen offenen Brief an den Verband. Bis heute sind nicht alle Spielerinnen in den Kader zurückgekehrt.
Vilda kann Erfolge vorweisen - aber auf kleinerem Level
Vildas Position im spanischen Verband ist auch dadurch gestärkt, dass sein Vater Angel Vilda laut spanischen Medien noch immer grossen Einfluss auf den spanischen Verband ausüben soll. Zudem ist Jorge Vilda selbst auch der Sportdirektor des spanischen Nationalteams der Frauen.
Sportlich hat Vilda selbst acht Jahre Fussball gespielt, mit Stationen in Barcelona und bei Real Madrid. Seine Trainerkarriere begann 2009 als Assistenztrainer des U19- und Trainer des U17-Teams. Mit dem U17-Team holte er zweimal den Europameisterinnen-Titel. Seit 2015 ist er Trainer des Nationalteams. Vom Weltranglistenplatz 19 schaffte es das Team auf Platz neun - allerdings hat sich in dieser Zeit auch die Struktur im spanischen Fussball der Frauen stark verändert. Mit dem Nationalteam gewann Vilda einmal den Algarve Cup und einmal den Cyprus Cup. Das Spiel des spanischen Nationalteams hat sich während des Turniers vor allem durch viel Taktik und ein sauberes Passspiel mit vielen Offensivideen hervorgetan.
Sarina Wiegmann ist der menschliche Gegenentwurf: Georgia Stanway sagte im Verlauf des aktuellen Turniers, dass sogar Familie von ihrer Trainerin angereist sei. Ein Reporter fragte sie daraufhin, warum sie von "sogar" gesprochen habe: "Manchmal vergisst man, dass die Trainerin auch menschlich ist", sagte Stanway und lachte - und Wiegmann sass lachend daneben.
Auch wenn Stanway darauf anspielte, dass Wiegmann wie eine Maschine funktioniere, zeigt dieser Clip doch ganz gut, wie besonders die Beziehung ist. Stanway erzählte ausserdem, dass Wiegmanns Familie aus den Niederlanden das Team in England-Trikots unterstütze.
Bilderbuchkarriere und Titelmaschine Wiegmann
Auch was Erfolge betrifft, hat Wiegmann eine mehr als doppelt so lange Liste wie Vilda: Sie selbst hat 26 Jahre gespielt, kickte schon als Mädchen bei den Jungs. Von 1987 bis 2001 niederländische Nationalspielerin und spielte im College für die North Carolina Tar Heels und danach für den niederländischen Verein Ter Leede - nebenher war sie als Sportlehrerin tätig. Bei Ter Leede holte sie zwei Meisterschaften und einmal den Pokal. Dort begann sie auch 2006 ihre Trainerinnenkarriere.
Mit dem Erreichen der offiziellen Trainerlizenz 2016 war sie die erste Frau, die für ein professionelles niederländisches Fussballteam agierte. Es folgten Stationen bei ADO Den Haag, dem niederländischen Nationalteam, Jong Sparta Rotterdam und seit 2021 dem englischen Nationalteam. Sie gewann insgesamt zwei Meistertitel in der niederländischen Liga und dreimal den Pokal. Mit den Niederlanden gewann sie 2017 die Europameisterschaft und stand 2019 bei der WM im Finale, wo das Team 2:0 den USA unterlag. Vergangenes Jahr folgte dann der EM-Titel mit England.
Bis heute ist Wiegmann die erste Trainerin, die zwei Europameisterschaften mit zwei unterschiedlichen Nationen gewonnen hat. Sie wurde dreimal zur Fifa-Trainerin des Jahres gekürt und ist damit die einzige Trainerin, die diesen Titel mehrfach bekommen hat.
Das Spiel der Engländerinnen offenbarte seine Taktik und seine Weltklasse erst im Halbfinale gegen Australien. Dort waren endlich Spielzüge und Ballbesitz zu sehen. In den Spielen davor wirkte es doch oft eher nach erkämpften Siegen. Doch Wiegmann hat es geschafft, dass ihr Team eine kontinuierliche Steigerung mit ins Turnier gebracht hat.
Ein Titel gegen das Patriarchat
Wer sich diese beiden Teams aus dieser Perspektive anschaut, versteht, dass es schwierig zu sagen ist, ob die Leistung des spanischen Nationalteams wirklich mit einer Leistung zutun hat, die Jorge Vilda erbringt - oder ob die Spanierinnen am Ende nicht doch ihr eigenes Ding durchziehen. Spielerinnen wie Alexia Putellas sind zwar zurückgekehrt, mit der Begründung, der Verband habe einiges verändert, aber ihr Verhalten gegenüber dem Coach und dem Team zeigt, dass dort alles andere als heile Welt herrscht.
Bei England hingegen ist öffentlich sichtbar, wie gross das Vertrauen der Spielerinnen in Wiegman ist. Die Partie ist in besonderem Masse aufgeladen: Wenn Spanien am Ende gewinnt, wird dieser Titel symbolisch dafür stehen, dass 15 Spielerinnen weniger geglaubt wurde als einem Mann in einer Machtposition. Es wäre ein weiterer Sieg für das Patriarchat. Auf X (ehemals Twitter) ist deshalb schon der Hashtag #SarinaVersusThePatriarchy entstanden.
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