Vielleicht wäre der perfekte Zeitpunkt, um darüber zu schreiben, wie viel diese WM für den Fussball der Frauen bedeutet – und wie viel sie Frauen im Fussball gegeben hat – vor den beiden Halbfinals gewesen.
Vier Teams griffen nach der Krone, die sie zuvor nie getragen hatten. Die Freude darüber, dass die australischen Mitgastgeberinnen es so weit geschafft haben. Hoffnung, die Schwedinnen könnten sich krönen, nachdem sie die USA leidenschaftlich niedergerungen hatten. Wissend, Sarina Wiegman hat zum zweiten Mal die Chance, nach der EM auch die WM zu gewinnen. Voller Bewunderung für die Spanierinnen, die es trotz der Widerstände in ihrem Verband so weit geschafft hatten. Es war ein wahrhaft magischer Moment.
Tradition von übergriffigem Verhalten
Dann der Finaleinzug der Spanierinnen und all die Konflikte, die er in der Betrachtung mit sich brachte. Während diese WM die Probleme in vielen Nationalverbänden erst sichtbar machte, waren die in Spanien längst bekannt, als 15 Spielerinnen aus der Nationalelf zurücktraten aus Protest gegen Trainer Jorge Vilda und dessen Methoden (und die meisten von ihnen bis heute nicht zurückkehrten). Ein Trainer, wohlgemerkt, der 2015 ins Amt kam, nachdem es gegen den Vorgänger Ignacio Quereda ebenfalls Vorwürfe gegeben hatte, einerseits sportlicher Natur, aber auch wegen mutmasslich übergriffigen Verhaltens. Eine unheilvolle Tradition.
Der Präsident des spanischen Fussballverbands RFEF, Luis Rubiales, hat Vilda immer geschützt. Dessen Vater arbeitet ebenfalls im Verband, Rubiales gilt als Freund der Familie. Nur wenige Tage vor dem Finale hatte der Präsident ein Interview gegeben, in dem er erklärte, wie viel er und Vilda zuletzt auszuhalten hätten. Die beiden mächtigen Männer, wohlgemerkt. Kein Wort von den Spielerinnen und ihren Strapazen, seien es diejenigen, die bei dieser WM um den Titel kämpften, oder jene, die darauf verzichteten, um sich für bessere Bedingungen einzusetzen.
Fussball der Frauen: Mehr als nur ein Spiel
Das Finale war ein Fussballspiel und es war doch so viel mehr. Wie so oft, im Fussball der Frauen, was absurderweise immer mal wieder als Vorwurf an eben jene formuliert wird: Wieso geht es bei euch nicht mal nur um den Sport? Ja, wie wunderbar wäre das, könnten Frauen einfach rausgehen und spielen, ohne nebenher um faire Bedingungen und gegen Übergriffe aller Art zu kämpfen. Die Realität sieht leider anders aus – und das wurde im Moment des spanischen Triumphes überdeutlich, als Rubiales bei der Siegerehrung die Spielerin Jennifer Hermoso (im Trikot von Teamkollegin Alexia Putellas) auf den Mund küsste, während er ihr Gesicht hielt.
Kein Wille zur Veränderung erkennbar
Hermoso hat in einem Video kurz darauf ihr Missfallen geäussert. Sie war nicht die einzige, die sich zudringliche Berührungen gefallen lassen musste, bei ihr ging Rubiales aber am weitesten. In der Kabine versprach der Präsident den Spielerinnen später eine Ibiza-Reise als Belohnung für den Titel, dort würde man seine Hochzeit mit Hermoso feiern. Das Verhalten von Rubiales, der sich in der Vergangenheit bereits wegen einer mutmasslichen Orgie verantworten musste, ist eine Katastrophe. Versuche, den Übergriff mit Freude oder Überschwang zu rechtfertigen, sind es ebenfalls. Diese Siegerehrung war die grösstmögliche Bühne für Frauen im Sport. Doch der Präsident hat mit seinem Verhalten den Fokus weggelenkt vom Triumph der Spielerinnen.
Er war das. Rubiales. Nicht die Menschen, die ihn jetzt dafür kritisieren, dass er im Rampenlicht normalisiert, Frauen ungefragt zu berühren und zu küssen. Wer sich hierzulande hinstellt und das mit spanischem Temperament verargumentiert, sollte dringend die eigenen Stereotype checken. Alltagssexismus ist ein massives Problem. Ihn so nonchalant zu präsentieren, macht es für Frauen umso schwieriger, dagegen anzukämpfen. Dass der spanische Verband später ein Statement der Spielerin veröffentlicht, sie habe mit all dem nun vermeintlich doch gar kein Problem, spricht Bände. Aufbruch und Wille zur Veränderung sieht anders aus.
Wer mit dem Sieg Spaniens die Hoffnung verbunden hatte, die Fussballerinnen könnten sich mit neuer Macht für ihre Belange einsetzen, sieht sich zunächst einmal enttäuscht. Immerhin, das öffentliche Interesse am Vorfall ist gross, nicht nur in Spanien. Vielleicht liegt ja darin eine Chance für die Spielerinnen. Ihren sportlichen Kampf haben sie gewonnen. Neben dem Platz geht der Kampf für die neuen Weltmeisterinnen weiter.
Verwendete Quellen:
- elpais.com: Jenni Hermoso, nach Rubiales' Kuss: "Was soll ich tun? Ich mochte es nicht"
- dw.com: WM 2023: Kuss-Eklat überschattet Spaniens WM-Triumph
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