Die Fussball-WM wird 2034 in Saudi-Arabien stattfinden. Die Fifa selbst sieht bei der Menschenrechtslage ein "mittleres Risiko". Doch wie ist die Situation heute tatsächlich und wie sind die Aussichten für die Zukunft? Wir haben mit einem Experten darüber gesprochen.
Zahlen lügen nur selten. Oft zeichnen sie ein recht klares Bild. Ein paar Beispiele: In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen belegt Saudi-Arabien Platz 166 von 180. Die NGO Freedom House schätzt Saudi-Arabien als "nicht frei" ein, vergibt in der Kategorie "Global Freedom Scores" acht Punkte, der Platz 191 unter 210 Ländern bedeutet. Und die Universität Würzburg führt den Wüstenstaat im Ranking der Länder nach der Demokratiequalität auf Platz 169 von 179. Das lässt sich so beziehungsweise so ähnlich mit weiteren Ranglisten fortführen.
Kurz gesagt: In dem Land, in dem Kronprinz
Die Fifa verharmlost die Lage
Bittere Ironie der Geschichte: Die letzte Hürde hatte der Gastgeber übersprungen, nachdem der Fussball-Weltverband Fifa vergangene Woche einen Prüfbericht mit 4,2 von fünf möglichen Punkten versah. In der viel diskutierten Frage der Menschenrechte steht die Ampel nur auf "Gelb" für ein angeblich mittleres Risiko. Gleichzeitig sieht die Fifa in der Bewerbung erhebliche Möglichkeiten für positive Auswirkungen auf die Menschenrechte.
Als "fragwürdig" stuft Sportpolitik-Experte Dr. Jürgen Mittag von der Sporthochschule Köln im Gespräch mit unserer Redaktion die Fifa-Bewertung der Menschenrechtslage ein. Man muss dazu wissen: Für die WM ist diese Kategorie eine Art Mogelpackung, denn die Vorgabe der Einhaltung der Menschenrechte gilt nur während des Turniers, die generelle Lage ist kein Kriterium. "Bei Saudi-Arabien muss man aber den Finger in die Wunde legen. In ganz unterschiedlichen Bereichen hat sich zwar einiges verändert, aber nach wie vor ist die Lage dort kritisch zu sehen", sagt Mittag. Deutlich kritischer noch als in Katar.
Wie der WM-Gastgeber von 2022 engagiert sich Saudi-Arabien seit längerer Zeit immer stärker im internationalen Sport, sowohl finanziell als auch durch die Einbindung einflussreicher Persönlichkeiten. Dabei geht es um prestigeträchtige Events wie Rennen der Formel 1, hochkarätige Boxkämpfe oder Supercups internationaler Fussball-Ligen.
Geld spielt keine Rolle
Geld spielt dabei keine Rolle, wodurch Superstars wie
"Der Sport soll Saudi-Arabien auf der internationalen Bühne besser positionieren, die Infrastruktur des Landes weiterentwickeln und – ein zunehmend wichtiger Punkt – die Sportbeteiligung und Gesundheitsförderung der eigenen Bevölkerung vorantreiben. Damit wird der Sport zu einem wesentlichen Bestandteil der langfristigen Strategie, das Land wirtschaftlich und gesellschaftlich zu modernisieren", sagt Mittag.
Sport als Ablenkung von anderen Themen?
Kritiker monieren, das sei "Sportswashing", um durch die Investitionen in den Sport von den Problemen im Land abzulenken. Denn die sind immer noch grossflächig und vielfältig: Die Pressefreiheit ist ebenso wie das Recht auf Meinungsfreiheit massiv eingeschränkt. Homosexuelle Handlungen werden bestraft.
Die Todesstrafe gibt es weiterhin, teilweise wird sie nach unfairen Verfahren verhängt. Amnesty International berichtet in dem Zusammenhang beim Report von 2023 von Folter und fehlendem Zugang zu einem Rechtsbeistand.
Hinzu kommt das Kafala-System, das man als Fussball-Fan noch von der WM 2022 in Katar kennen dürfte. Durch das System werden Arbeitsmigranten rechtlich an einen Arbeitgeber gebunden, und die Beschäftigten haben nur begrenzte Rechtsmittel, wenn sie Lohndiebstahl, Gewalt oder andere Menschenrechtsverletzungen erfahren. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat die Missstände in einem Report durch Interviews mit zahlreichen aktuellen und früheren Arbeitern in Saudi-Arabien festgehalten. Für den Namen des Berichts ("Stirb zuerst, und ich bezahle Dich später") haben die Macher ein überliefertes Zitat eines Vorgesetzten genommen.
Lesen Sie auch
Auch die politische Lage ist hochbrisant
"Und wenn man darüber hinaus den Staatsterrorismus mit einbezieht, sieht man, dass in diesem Staat einiges immer noch im Argen liegt", betont Mittag. Politisch ist Saudi-Arabien zudem eine entscheidende Vormacht in einer Region, die nach wie vor eine der grössten Krisenregionen schlechthin ist. "Und aus einer internationalen Perspektive muss sehr genau beobachtet werden, wo sich diese Region mittel- bis langfristig hin entwickelt", führt der Professor weiter aus.
Allerdings wurden in den vergangenen Jahren Veränderungen vorangetrieben. Frauen dürfen zum Beispiel inzwischen Autofahren, es gibt auch eine weibliche Frauenfussball-Liga. Von einer Gleichstellung ist das Land aber noch weit entfernt. Doch man muss genauso konstatieren, dass es für das Land im "Global Gender Gap" des World Economic Forum nach oben geht. 2018 noch lag Saudi-Arabien auf einem der letzten drei Plätze. Das Ranking von 2024 führt Saudi-Arabien auf Rang 126 von 146 Ländern. Es sind kleine Schritte, aber es sind Schritte in die richtige Richtung.
Saudi-Arabien muss sich westlichen Standards annähern
"Es passiert etwas. Aber das ist keine Entwicklung, die von jetzt auf gleich zu fundamentalen Sprüngen und Dynamiken führt", sagt Mittag: "Es ist eher eine langsame, behutsame und auf längere Sicht hin zu betrachtende Veränderungsdimension." Und das liegt auch an Mohammed bin Salman. Auf der einen Seite ein brutaler, terroristischer und vielfach kritisierter Herrscher, der aber laut Mittag auch dafür steht, dass diese Reformen passieren. Denn auch hier geht es um Geld: Saudi-Arabien muss sich westlichen Standards annähern, um mitmischen zu können.
"Die Notwendigkeit dieser Reformen wird erkannt", erklärt Mittag, der aber auch einräumt, dass sich die saudischen Herrscher nicht vollends in die Karten blicken lassen. In dem Zusammenhang verweist er auf die Hoffnungen auf Veränderungen in Saudi-Arabien in den 1980er und 1990er-Jahren, als die USA auf Fortschritte in dem Land gedrängt haben. Funktioniert hat das jedoch nicht. Mittag: "Die Hoffnung, dass die Veränderungsdimensionen der letzten Jahre nachhaltiger und wirksamer als damals sind, ist definitiv vorhanden. Aber man darf die Erwartungshaltung nicht zu hoch hängen, sondern auf eine sehr lange Perspektive setzen."
Viel Kritik für Katar – aber keine globale
Was in der Gemengelage rund um die WM-Vergabe eine grosse Rolle spielt: Die Fifa hat wegen der WM in Katar viel Kritik eingesteckt, die allerdings keine globale war. "Der Weltverband hat gemerkt, dass die Kritik im Wesentlichen eine europäische und wenn man es genau nimmt, eine auf einige wenige europäische Staaten beschränkte Kritik war", sagt Mittag. Daher sei es für die Fifa gar kein so grosses Risiko, diese Strategie in Verbindung mit Ländern aus dem arabischen Raum weiterzuentwickeln, so der Experte. Oder anders gesagt: Es gibt einen deutlich zu vernehmenden Aufschrei in Europa, in der restlichen Welt hält sich die Ablehnung zu einem grossen Teil aber in Grenzen.
Denn parallel dazu gibt es eben auch die Debatte, ob Sportgrossereignisse nur in Ländern, die westlichen Massstäben genügen, ausgerichtet werden sollen oder ob Sportgrossveranstaltungen auch in Ländern mit anderen Traditionen, Werten und menschenrechtlichen Standards stattfinden sollen. "Wenn man die westliche Perspektive anlegt, dann ist Saudi-Arabien deutlich kritischer als Katar zu sehen", betont Mittag.
Wenn man aber von der Warte aus argumentiere, dass man auch die Traditionen unterschiedlicher Länder berücksichtige, so Mittag, "dann muss man das in einem anderen Licht sehen und die Veränderungsdimensionen, die in Saudi-Arabien auszumachen sind, berücksichtigen". Im Ergebnis "sieht man auch, wie sich die Machtverhältnisse im internationalen Sport mittlerweile verändern, nicht nur im Fussball, auch grundsätzlich", sagt Mittag, der betont, dass in der internationalen Sportpolitik die Frage "WM 2034 in Saudi-Arabien – richtig oder falsch?" nur differenziert beantwortet werden kann. Keine Frage aber ist: "Die Veränderungsnotwendigkeit ist in Saudi-Arabien ungleich grösser als sie es bei anderen früheren Ausrichtern war."
Die grosse Frage: Wird sich etwas ändern?
Glaubt der Sportpolitik-Experte denn, dass sich in den zehn Jahren bis zum Turnier diese angeleierten Veränderungen noch verstärken und auch in der Breite ausgebaut werden? "Definitiv", sagt Mittag.
Denn Saudi-Arabien wird bis dahin noch zahlreiche Sportgrossereignisse ausrichten. "Die Medien werden deshalb immer wieder den kritischen Blick auf Saudi-Arabien legen", glaubt der Experte. Das werde wiederum dazu führen, dass es weitere Veränderungen geben werde: "Und diese Prozesse werden ein anderes Saudi-Arabien zum Vorschein bringen, als wir das im Jahre 2024 erleben." Das wird man dann auch wieder in Zahlen sehen können. Denn die lügen nur selten.
Über den Gesprächspartner
- Jürgen Mittag ist als Professor für Sportpolitik an der Deutschen Sporthochschule Köln tätig. Der Titel der Professur "Sportpolitik" passt stark zu seinem Werdegang. "Für mich eine ziemlich perfekte Quintessenz meiner bisherigen Studien und akademischen Stationen", sagt Mittag. Das Institut des 54-Jährigen trägt den Titel eines Jean Monnet-Lehrstuhls und zielt damit auf ein besseres Verständnis der Europäischen Union ab, indem verstärkt europäische Themen vergleichend in Forschung und Lehre untersucht werden.
Verwendete Quellen
- reporter-ohne-grenzen.de: Rangliste der Pressefreiheit: Weltkarte
- freedomhouse.org: Countries and Territories
- demokratiematrix.de: Ranking der Länder anhand der Demokratiequalität
- amnesty.de: Saudi-Arabien 2023
- Human Rights Watch: "Die First, and I'll Pay You Later": Saudi Arabia’s ‘Giga-Projects’ Built on Widespread Labor Abuses
- World Economic Forum: Global Gender Report 2024
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.