Der Fifa-Boss geriert sich trotz unübersehbarer Missstände im Land des WM-Gastgebers als Bewahrer von Sitte und Moral. Aber selbst die mächtige Fifa dürfte gehörigen Respekt haben vor der Weltmeisterschaft im kommenden Jahr.
Es gibt nicht viele 77-Jährige, die die Welt an ihrem Leben teilhaben lassen. So fortschrittlich und modern wie Joseph S. Blatter die ihm unterstellte Fifa verkauft, will der Präsident des wichtigsten Sportverbands des Planeten aber offenbar mit bestem Beispiel selbst vorangehen. Also twittert Sepp Blatter.
Unmittelbarer kann er seinen Katechismus nicht unters Volk bringen. Über 400.000 Menschen folgen Blatter und lesen mehr oder weniger wichtige Elogen über die heiligende Wirkung des Fussballs oder ihn selbst.
Wer den echten Sepp Blatter aber in den letzten Tagen beobachtet hat, dürfte schnell gemerkt haben, dass seine Anstrengungen auf humanitärer Ebene bestenfalls einstudiert waren. Manch einer würde behaupten: geheuchelt.
Missverstandener Protest
Als in Brasilien die Menschen aus den Wohnzimmern hinaus auf die Strassen gingen und der Druck der Massen sich in den heftigsten Demonstrationen seit Jahrzehnten entlud, wollte Sepp Blatter einmal mehr die Tragweite der Ereignisse nicht richtig einordnen. Oder er konnte es schlicht nicht.
"Der Fussball ist stärker als die Unzufriedenheit der Menschen", fabulierte er aus dem Fifa-Bausatz der Gutmenschlichkeit und war sich im Gegenteil sehr sicher: "Wenn der Ball einmal rollt, werden die Menschen das verstehen, und das wird aufhören."
Der Confed Cup ist seit seiner nebulösen Erfindung vor über 20 Jahren die Generalprobe für die Fussball-Weltmeisterschaften im darauffolgenden Jahr. Neben dem Fussball wird das jeweilige Gastgeberland dem strengen Blick der Weltöffentlichkeit unterzogen.
Nicht immer mit durchschlagendem Erfolg, wie vor vier Jahren in Südafrika; und jetzt in Brasilien. Die Menschen murren und bleiben kritisch. War die Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika für den afrikanischen Kontinent im Vorfeld noch wie ein grosses Geschenk des Schweizer Sonnengotts, kippte die Stimmung bereits beim Eröffnungsspiel, als Blatter veritabel ausgepfiffen wurde.
Vier Wochen später überreichte er den WM-Pokal an Iker Casillas und das komplette Stadion buhte lauter als die nervtötenden Vuvuzelas lärmten. Ein Jahr später beim olympischen Finale dasselbe Szenario. "Stars werden immer ausgebuht, also bin ich ein Star. So muss man das nehmen. Ich dachte, das Olympia-Publikum wäre ein bisschen gebildeter", sagte Blatter damals.
In Brasilien wollten die Menschen nicht mehr warten, bis die ganz grosse Bühne Weltmeisterschaft im kommenden Jahr ihre Pforten öffnet. Es war Zeit für den Protest. In erster Linie gegen die eigene Regierung. Dass die WM-Vergabe aber nicht nur Auslöser, sondern zentraler Bestandteil der Demonstrationen war, wollte Blatter nicht einsehen.
"Der Fussball bringt nur Freude"
Als wäre die Fifa-Familie rein zufällig zur falschen Zeit im falschen Ort eingefallen, verneinte Blatter jeglichen Zusammenhang zwischen den Protesten und dem Fussball. "Beides hat nichts miteinander zu tun. Das sind soziale Probleme Brasiliens und nicht des Fussballs. Der Fussball bringt nur Freude für die ganze Welt."
Vielleicht zum Trotz, vielleicht als eindeutige Antwort darauf entrollten die Fans beim Halbfinale in Fortaleza ein riesiges Plakat und beschieden Blatters Familie: "Fifa go home!"
Am Finaltag zum Spiel zwischen Brasilien und Spanien waren 17.000 Sicherheitskräfte in Rio de Janeiro im Einsatz, 10.000 von ihnen rund um das Maracana-Stadion, in dem Jungstar Neymar zu wiederholten Mal seine Show ablieferte. So viele wie noch nie bei einer Sportveranstaltung in Brasilien. Ebenso demonstrativ wie traditionell ging Blatter auf die tausendfach geäusserte Kritik nicht ein, sondern strich vielmehr die wenigen positiven Aspekte des Probe-Turniers heraus.
"Als Präsident der Fifa muss ich sagen, dass ich in organisatorischer Hinsicht sehr zufrieden damit bin, was hier passiert ist. Wir konnten in sechs praktisch brandneuen Stadien spielen und haben von den acht Teilnehmern nur Lob bekommen."
Was so natürlich nicht stimmte, schliesslich äusserten sich mehrere Verbände kritisch zu organisatorischen und infrastrukturellen Nachlässigkeiten. Italiens Nationaltrainer Cesare Prandelli bemängelte unter anderem die Verletzungsgefahr eines straff gezurrten Spielplans für die Profis am Ende einer ermüdenden Saison.
Emotional und inhaltlich war die Fifa einmal mehr nicht in der Lage, den Protesten zu begegnen. Also soll wie schon vor vier Jahren in Südafrika ein finanzieller Winkelzug Abhilfe schaffen. 100 Millionen Euro fliessen als Aufbauhilfe für soziale Zwecke nach Brasilien. Wie zum Beweis tat Blatter dann, was ein guter Fifa-Präsident gerade in solch stürmischen Zeiten wohl tun muss und eröffnete in Belo Horizonte das nächste Zentrum des Fifa-Sozialprojekts "Football for Hope".
Ein hilfsbereiter Präsident
"Ich gebe oft Geld an Menschen, die Tränen in den Augen haben", hatte Blatter seine karitative Ader einst in Worte gefasst. Ein Satz, so zweideutig wie fast alles am Walliser - angesichts des schonungslosen Vorgehens der brasilianischen Polizei mit Tränengas und Gummiknüppeln gegen die eigene Bevölkerung.
Dieses knappe Jahr bis zum Eröffnungsspiel am 12. Juni 2014 wird für die Fifa zu einem schwer kalkulierbaren Faktor. "Ich hoffe, dass die Bewegung, die wir auf der Strasse sehen und die bis nach Brasília reicht, nicht bis zur WM 2014 weitergeht", sagte Generalsekretär und Blatters rechte Hand Jerome Valcke und machte deutlich, dass selbst der Fifa die Wucht der Proteste nicht ganz geheuer war.
Als dann der Confed Cup vorbei war und man nichts mehr verschleiern, beschönigen oder ins Scheinwerferlicht rücken musste, sagte Blatter doch noch einen einigermassen entlarvenden Satz. "Es ist unerlässlich, dass die Weltmeisterschaft im kommenden Jahr ein Erfolg wird. Denn das ist zu 90 bis 95 Prozent die Einnahmequelle der Fifa."
Blatter sagte das live auf einer Pressekonferenz. Als chemisch gereinigten Tweet hätte man solch offene Worte wohl nie gehört.
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