- Viele Fussballfans wollen die WM nicht im TV verfolgen.
- Sie wollen der Fifa, den Sponsoren und dem Gastgeberland damit einen Denkzettel verpassen.
- Warum die TV-Quote aber nicht mehr alles ist.
Ausbeutung, widrige Arbeitsbedingungen, Menschenrechtsverletzungen: Die Liste, weshalb viele deutsche Fans die Spiele der Fussball-WM in Katar nicht anschauen möchten, ist lang. Laut einer "Bild"-Umfrage wollen 43 Prozent der Befragten die Spiele nicht verfolgen. Laut einer anderen, von ARD und ZDF veranlassten Umfrage sind es sogar 56 Prozent. Mit einem Fernsehboykott wollen sie dem Weltverband FIFA, den Sponsoren und dem Ausrichterland einen Denkzettel verpassen. Eine niedrigere Einschaltquote bringt weniger Reichweite – und schadet den Beteiligten in ihrem Image und wirtschaftlich. Aber ist die Rechnung so einfach?
Bundesinnenministerin
Wer die Box hat, entscheidet: Wie Quotenmessung funktioniert
Etwa 5000 Haushalte in Deutschland haben ein Quotenmessgerät daheim. Sie sollen "ein verkleinertes Abbild aller Privathaushalte mit mindestens einem Fernsehgerät in Deutschland" abbilden, erklärt die AGF Videoforschung, die die Messung organisiert. Tatsächlich setzt sich die Quote aus ihrem Sehverhalten zusammen. "Die Leute, die eine Box daheim stehen haben, haben den grössten Hebel in der Hand", sagte Markus Kurscheidt, Professor für Sport Governance an der Universität Bayreuth. Er beschäftigt sich mit politischen und wirtschaftlichen Folgen eines WM-Boykotts.
Allerdings gibt es viel Kritik an der Quotenmessung. Sie rechnet zwar Streamingdienste ein, die über den Smart-TV konsumiert werden, nicht aber Streaming über Laptop, Tablet und Smartphone. In Bezug auf Spartensender ist sie ungenau. Die AGF möchte die Messung deshalb ausbauen. Fakt ist aber auch: Für die Sender ist die Einschaltquote zentraler Richtwert, wie sich der Tausender-Kontakt-Preis für Werbekunden berechnet, wie viel Geld sie einnehmen. Das schreibt der MDR auf seiner Website.
Die Macht der sozialen Netzwerke: Warum die Quote nicht alles ist
Für Sportökonom Kurscheidt zählt aber wesentlich mehr als die Einschaltquote. Es gebe eine ganze Reihe an Instrumenten, "wie sich Fans bemerkbar machen", sagte er, also wie Fans zum Beispiel das Image der WM beeinflussen können. Dazu zählen die Banner in den Bundesligastadien, die zuletzt für Aufmerksamkeit gesorgt haben. Mit einem Plakat mit der Aufschrift "15.000 Tote für 5760 Minuten Fussball! Schämt euch!" protestierten etwa Fans im Berliner Olympiastadion.
Auch kritische Kommentare, Videos und Posts in den sozialen Netzwerken seien in der heutigen Zeit ein wirksames Mittel, um die eigene Haltung zu repräsentieren, sagt Kurscheidt. Denn eines sei klar: "Weder die Fifa noch die Verantwortlichen in Katar haben eine so negative Haltung in der Weltöffentlichkeit erwartet."
Aber viele Fans wüssten auch noch nicht, wie sie sich verhalten sollen – ein Novum für die Fifa. Bisher konnte sich der Weltverband auf die Emotionalität und die Verbundenheit der Fans zum Fussball verlassen. Das habe sich geändert, erklärte Fanforscher Harald Lange dem NDR: "Da schwingt ganz viel Enttäuschung, Frustration und aufkommendes Desinteresse an diesem Fussballzirkus mit."
Wenn ich es nicht mache, macht es ein anderer: Die Rolle der Sponsoren
Adidas, Qatar Airways, Coca-Cola sind laut einer Studie der Universität Hohenheim die bekanntesten Sponsoren der WM. Marken, die man auf der ganzen Welt kennt – und die eben nicht nur für Europäer und deren kritische Haltung stehen. Weltmeisterschaften und Olympische Spiele gehören zu den grössten Bühnen, die die Marken erhalten, um sich zu präsentieren. Die wollen sie nutzen: "Viele Unternehmen denken sich: ‚Wenn ich mich zurückziehe, findet sich eben jemand anderes‘", sagte Kurscheidt.
Auch wenn viele Unternehmen inzwischen für Themen wie Nachhaltigkeit und Menschenrechte – kurz Corporate Social Responsibility – einstehen: "Durchschlagend ist das bisher nicht." Ein Umdenken könnte nur bei einer grossen öffentlichen Debatte stattfinden.
Das Aus der Super League: Warum es Hoffnung auf Besserung gibt
Für den Hochschulprofessor gibt es Anzeichen, dass dieses Umdenken langsam stattfindet. "Ich bin zuversichtlich, dass ein ‚Weiter so!‘ nicht möglich ist", sagte er. Ein Beispiel sei die Super League, die gescheitert ist. Heute sei der Widerstand schon wesentlich grösser als noch vor ein paar Jahren. Fan-Initiativen, Verbände wie der Norwegische Fussballverband und Non-Government-Organisationen würden sich widersetzen.
Gefestigte Systeme wie jenes in Katar lassen sich davon noch nicht beeindrucken. Fakt ist auch, dass die WM nicht in allen Teilen der Welt so kritisch beäugt wird wie in Zentraleuropa.
Verwendete Quellen:
- NDR: Fanforscher über WM-Boykott: Keine Lust mehr auf den Fussball-Zirkus
- MDR: Wie die Einschaltquote ermittelt wird
- Deutschlandfunk: Die Erfolgsaussichten eines Boykotts sind gering
- Deutschlandfunk: Fanvertreter Dario Minden: "Wenn man Haltung beweisen will, muss man dahin gehen, wo es wehtut"
- Redaktionsnetzwerk Deutschland: Experte: "WM-Boykott hätte keinen nennenswerten Effekt mehr"
- Handelsblatt.de: Welche Firmen vom Turnier in Katar profitieren – und welche nicht
- Bild.de: Die Hälfte der Deutschen will kein einziges Spiel schauen
- Sueddeutsche.de: Bundesliga-Fans fordern WM-Boykott
- Universität Hohenheim: WM-Studie 2022: Kauflust der Fans niedrig wie nie zuvor
- Gespräch mit Prof. Dr. Markus Kurscheidt, Universität Bayreuth, 15.11.2022
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