Es ist ein bitteres Aus für die Nati. In der 119. Minute erzielt Argentinien das 1:0 - und Trauer und Wut kochen hoch. Doch selten hat die Nati so viel Zuneigung erfahren wie an dieser WM. Was bleibt nach Ottmar Hitzfeld und Brasilien?
69 Prozent sind eine ganze Menge. Die Boulevard-Zeitung "Blick", die der Schweizer Nati oft und gerne ihre Unzulänglichkeiten unter die Nase reibt, hat ihre Leser abstimmen lassen. Ob sie mit dem Auftritt ihrer Mannschaft bei der Weltmeisterschaft in Brasilien zufrieden seien. Trotz des Ausscheidens im Achtelfinale. "Ja, wir haben eine tolle WM gespielt", klickten also etwas mehr als zwei Drittel der Befragten. In der jüngeren Geschichte des Schweizer Fussballs ist eine derartige Zuneigung zur Nati rar.
Die Schweiz, gemessen an den Einwohnerzahlen ein Exot unter den Grossmächten des Fussballs, hat sich mehr als würdig vertreten am anderen Ende der Welt. Das 0:1 gegen Argentinien liess die Nati 118 Minuten lang all die Schönheit des Fussballs geniessen. Dass man mit Leidenschaft, Wille, Einsatzbereitschaft, Kampf und einem funktionierenden Kollektiv auch den Grössten des Geschäfts das Leben schwer machen kann und, noch viel wichtiger, selbst die Chance auf den ganz grossen Wurf am Leben hält.
Wie grausam der Fussball aber auch sein kann, zeigte sich in den letzten anderthalb Minuten der Partie. Ein einziges Mal hatte Leo Messi ein paar Meter zu viel Platz, vier oder fünf Schweizer Grätschen rutschten ins Leere, Pass auf Angel di Maria, Tor. Sekunden später setzte Blerim Dzemaili einen Kopfball aus wenigen Metern an den Pfosten, den Nachschuss stolperte er ins Aus. Es sind die kleinen Unterschiede, die die grossen Spiele entscheiden. Das musste die Schweiz, die nur selten ein ganz grosses Spiel bestreiten darf, nun auf bitterlichste Weise erfahren.
"So viele Emotionen überall"
"Fussball ist brutal. Ein kleiner Fehler gegen einen grossen Spieler… total brutal", sagte der Schweizer Co-Trainer Michel Ponts nach der Schlacht von Sao Paulo. Michel hatte das Reden noch am Spielfeldrand übernommen für seinen Chef Ottmar Hitzfeld. Der war bereits vor dem Spiel sichtlich bewegt, auch wenn sich der General mal wieder nicht viel anmerken lassen wollte.
Keine 24 Stunden vor dem Anstoss war Hitzfelds Bruder Winfried einem Krebsleiden erlegen, dazu war es das letzte Spiel in der beispiellosen Karriere eines der erfolgreichsten Trainer in der Geschichte dieses Spiels überhaupt."So viele Emotionen, so viele Emotionen überall", stammelte Michel Ponts. Zu mehr war aber auch er nicht mehr in der Lage.
Der Schlusspfiff in Sao Paulo kommt für den Schweizerischen Fussballverband einer Zäsur gleich. Ab sofort geht die Nati ihren Weg weiter ohne den "Halb-Schweizer", wie Hitzfeld sich selbst bezeichnet. Hitzfeld hat das kleine Land in den Zirkel der Grossen des Fussballs geführt, bis auf Platz sechs der Weltrangliste. Hitzfeld geht mit einem guten Gefühl, auch wenn es für ihn persönlich eine der härtesten Stunde seiner 31-jährigen Karriere als Trainer sein dürfte.
"Der Stolz über meine Mannschaft überwiegt. Sie hat eine grossartige, leidenschaftliche und taktisch hervorragende Leistung abgeliefert. Sie ist auch in hektischen Momenten ruhig geblieben", sagt er später auf der Pressekonferenz. "In den letzten drei Minuten haben wir alles erlebt, was der Fussball bieten kann. Erst der Schock mit dem 0:1, dann die unglaubliche Reaktion meiner Mannschaft. Benaglios Fallrückzieher, die Flanke von Shaqiri, Dzemaili trifft nur den Pfosten, der Abpraller geht knapp daneben. So ist Fussball."
Was bleibt, ist eine intakte Mannschaft mit einer sehr ordentlichen Perspektive für Hitzfelds Nachfolger, Vladimir Petkovic. Das Team besitzt eine gute Struktur, die Mischung aus jungen und älteren Spielern stimmt und im technisch-taktischen Bereich hat die Schweiz in den letzten zehn Jahren mächtig aufgeholt. Aus den U-Mannschaften des Verbandes und den Nachwuchsleistungszentren der Profiklubs rücken genügend talentierte Spieler nach.
Nati hat an Grösse und Erfahrung gewonnen
Natürlich wird es Rückschläge geben und vielleicht auch keinen grossen Titel im Seniorenbereich. Dafür scheint die Konkurrenz in Europa einfach zu übermächtig. Aber die Schweiz hat gezeigt, dass sie mithalten kann. Und sie hat gelernt, mit ihren Niederlagen umzugehen. Das 2:5 gegen Frankreich war eine schwarze Stunde, und früher wäre die Nati im letzten Gruppenspiel gegen Honduras wohl am Druck zerbrochen.
Dieses Mal blieb die Mannschaft cool und fokussiert und stand gegen einen der Top-Favoriten vor einer der grössten Überraschungen des Turniers - und der wohl grössten der Schweizer Fussballgeschichte. Es bleibt ein wenig Wehmut, aber sehr viel Positives von dieser Weltmeisterschaft zurück.
Oder wie Ottmar Hitzfeld es sagte, im letzten offiziellen Statement seiner grossen Karriere: "Die Schweiz geht erhobenen Hauptes nach Hause. Wir haben heute viele Sympathien auf der ganzen Welt gewonnen. Das kann uns alle sehr stolz machen!"
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.