Manch einer mag sich an die dunkle Zeit der 1980er und 90er Jahre erinnert haben: Da gab es Heerscharen deutscher Nationalmannschaften, die sich nahezu mittellos wehrte gegen flinke und intelligent spielende Gegner - und am Ende trotzdem einen knappen Sieg erringen konnte. Der 1:0-Sieg der deutschen Nationalmannschaft gegen Chile im Jahr der WM 2014 in Brasilien war ein Spiel wie aus einer anderen Zeit. Mit einer in allen Belangen unterlegenen deutschen Auswahl, die phasenweise gar nicht mehr wusste, welches der unzähligen Feuer, die die Gäste über 93 Minuten gelegt hatten, sie zuerst löschen sollte.
Für Bundestrainer Joachim Löw war es das erste und letzte Testspiel im Jahr der WM 2014 in Brasilien, bevor der Bundestrainer am 8. Mai seinen vorläufigen Kader nominieren wird. In den Tagen davor hatte Löw versucht, seiner Mannschaft den Blick auf die wesentlichen Dinge zu schärfen. Löw hatte harte und unmissverständliche Worte gefunden und den Druck auf seine Spieler erhöht.
Haben die Spieler Jogi Löw verstanden?
Dass wirklich jeder die Ansagen des Trainers verstanden haben mag, darf nach der schwachen Vorstellung gegen die bissigen und beherzt auftretenden Chilenen stark bezweifelt werden. Es war ein Lehrstück, wie man der deutschen Mannschaft auf den Leib rücken kann.
Mit einer ungeheuren läuferischen Leidenschaft, mit aggressivem Pressing tief in der gegnerischen Hälfte und einer bis an die Mittellinie nachrückenden Viererkette raubten die Gäste der Löw-Mannschaft jegliche Luft zum Atmen. Und Deutschland? Fand während des gesamten Spiels kein Gegenmittel, um sich aus der dauerhaften Umklammerung zu befreien.
Löw hatte sich von diesem Testspiel einige Antworten auf dringliche Fragen erhofft - letztlich wird er wohl konstatieren müssen, dass er nun noch mehr ungeklärte Fälle zu bearbeiten hat und noch mehr vom Faktor Zeit abhängig wird.
Viel Zeit hat Jogi Löw nicht mehr
Kevin Grosskreutz stand als Rechtsverteidiger im Blickpunkt. Der Dortmunder spielte solide - zumindest im Vergleich zu seinen desolaten Kollegen. Marcell Jansen musste früh ausgewechselt werden, der linke Verteidiger zog sich einen Bänderriss im Sprunggelenk zu und fällt länger aus. Vertreter Marcel Schmelzer hatte grosse Probleme auf seiner Seite. Miroslav Klose blieb 45 Minuten völlig blass, bis er in der Pause ausgewechselt wurde. Sein Vertreter Andre Schürrle - noch so ein Sorgenkind im Moment - hatte keine einzige positive Szene in 45 Minuten. Mesut Özil, vor dem Spiel noch als DFB-Spieler des Jahres 2013 ausgezeichnet, wurde bei seiner Auswechslung kurz vor Schluss sogar ausgepfiffen.
102 Tage sind es noch bis zum Auftaktspiel gegen Portugal in Salvador: Nicht viel Zeit, um alle Verletzten wieder fit zu bekommen und die dringend notwendige Abläufe untereinander einzuschleifen.
Gegen Chile jedenfalls gesellten sich zu den klassischen Problemzonen - die beiden Flügel der Viererkette und der Angriff - auch noch Schwächen im Zentrum des Spiels: Da bot Löw zwar das Bayern-Herzstück aus Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger und Toni Kross auf. Aber nicht einmal die Münchener Seriensieger vermochten der Mannschaft die nötige Stabilität zu geben.
Chile macht vor, wie es geht
"Unsere Spieler, die eine sehr hohe individuelle Klasse haben, kamen im Mittelfeld heute nicht so zum Tragen. So konnten wir zu Hause nicht so dominant auftreten, wie wir das eigentlich gewohnt sind", sagte Löw. "Man muss im Umschaltverhalten bei Ballgewinn versuchen, das Tempo aufrecht zu erhalten, um den Ball in den gegnerischen Sechzehner zu bringen. Das ist uns nicht gelungen." Stattdessen sah der Bundestrainer einen Gegner, der in Teilbereichen so perfekt auftrat, wie er seine eigene Mannschaft bei der WM gerne sehen würde.
"Chile war technisch, läuferisch und bei den Zweikämpfen hervorragend. Wir wollten auch unser Pressing spielen, aber Chile immer kam immer wieder mit Spielern in die Zwischenräume. Es war es schwer für uns, in die Zweikämpfe reinzukommen. So einen Gegner muss man versuchen, laufen zu lassen. Aber uns hat dafür die Ballsicherheit hat gefehlt."
Philipp Lahm redet sich heraus
Löws lauter Warnschuss vor der Partie verpuffte beim Gros seiner Mannschaft offenbar ungehört. Ohne die nötige Körperspannung und Entschlossenheit ist auch in einem Testspiel kaum einem Gegner beizukommen. Und schon gar nicht dem 14. der Weltrangliste, einer Pressingmaschine, wie es nur wenige bessere gibt auf der Welt und einem der Geheimfavoriten bei der Endrunde.
"Wir sind auf einen Gegner getroffen, der richtig viel Qualität hat und der zuletzt auch gegen anderen Gegner gute Ergebnisse erzielt hat", sagte Kapitän Lahm. "Aber wir haben nur zwei Trainingseinheiten zusammen absolviert, da ist es klar, dass viele Dinge nicht so funktionieren. Wir sind alles gestandene Bundesligaspieler, über unsere Fitness bei der WM müssen wir nicht diskutieren."
Die Gegenfrage muss erlaubt sein, inwieweit die Chilenen denn Zeit und Musse hatten, ihre Abläufe derart aufeinander abzustimmen und zu verfeinern - waren doch auch die Südamerikaner noch bis Montag alle bei ihren Klubs verstreut über den gesamten Globus unterwegs und ebenfalls nur zwei Tage zusammen. An der grundsätzlichen Ausrichtung bis zum Auftakt der heissen Vorbereitungsphase Mitte Mai will Löw vorerst nichts ändern. "Mein Plan hat nichts mit diesem Spiel zu tun. Einige müssen in den nächsten zwei, drei Monaten einiges tun, um ihre Form zu finden", sagte Löw.
Keine taktische Veränderung
Der Bundestrainer tobte und coachte so viel wie noch nie zuvor in fast acht Jahren Amtszeit, eine einschneidende taktische Veränderung nahm Löw aber auch nicht vor. Dass Chile in seinem Spielstil keinem der deutschen Vorrundengegner ähnelt und Löwe auf echte Experimente verzichtete, nahm der Partie den originären Testspielcharakter. "Freundschaftsspiel unter Wettkampfbedingungen" trifft es wohl eher.
Von den vier Neulingen, die Löw demonstrativ auch als kleines Druckmittel für die Arrivierten eingeladen hatte, liess er nur Matthias Ginter ran. Vier Minuten durfte der Freiburger sein Debüt geniessen, er ist damit der 59. Debütant der Ära Löw und der insgesamt 900. Nationalspieler in der Geschichte des DFB. Seinen Worten, noch mehr Druck aufzubauen auf den einen oder anderen, kam Löw mit seinen vorsichtigen Wechseln jedenfalls kaum nach.
Immerhin gab es beim Blick über den Tellerrand der Mercedes-Benz Arena hinaus auch ein wenig Grund zur Gelassenheit. Von den deutschen Gegnern siegten lediglich Portugal (5:1 gegen Kamerun). Ghana (0:1 gegen Montenegro) und die USA (0:2 gegen die Ukraine) offenbarten sogar noch mehr Probleme als die DFB-Elf.
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