Es scheint ein schlechter Scherz des Schicksals, dass in Spanien an einem Tag gleich zwei Epochen zu Ende gingen. Juan Carlos ist nicht mehr König von Spanien. Und die Seleccion hat nach drei fulminanten Turnieren in Folge bei der WM 2014 in Brasilien ihren ganz eigenen GAU erlebt. Die Gründe dafür sind vielfältig. Doch wenn Spanien jetzt die richtigen Schlüsse zieht, werden sie bald zurück sein im Konzert der grossen Fussballnationen.
Das 0:2 gegen Chile bedeutet nicht nur das Aus des Titelverteidigers nach bereits zwei Gruppenspielen. Es kommt im Land der Allesgewinner auch dem Ableben einer Ära gleich. "The End" titelt die "Marca" am Tag nach dem Desaster von Maracana - und unterstreicht die Gewissheit mit dem Bild eines allein gelassenen Andres Iniesta.
Vor drei Wochen schien der spanische Fussball noch unantastbar. Drei der vier Finalteilnehmer der europäischen Vereinswettbewerbe stellte die Primera Division, beide Titel gingen am Ende nach Spanien. Und trotzdem zerschellte die Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft spektakulär.
Die Gründe für das Vorrunden-Aus von Spanien sind vielfältig, erste Konsequenzen dürften nicht lange auf sich warten lassen. Eine Bestandsaufnahme.
Was waren die Gründe für das Ausscheiden von Spanien?
Null Punkte und 1:7 Tore nach zwei Spielen sind kein Zufall. Spaniens Spielstil hat sich über Jahre bewährt, wurde oft kopiert und doch nie erreicht. Dass das System des Ballbesitzfussballs aber nicht ewig erfolgreich sein würde, war abzusehen. Die Spanier haben ihren Stil sehr an dem des FC Barcelona orientiert und hätten aufmerksamer sein müssen, als Barca nun zwei Jahre in Folge damit an seine Grenze gestossen war. Das Urvertrauen in die eigenen Stärken hat womöglich den Blick auf den Wandel im Weltfussball etwas vernebelt. Andere Mannschaften wissen mittlerweile, wie man Spanien begegnen muss.
Schlüsselspieler wie Iker Casillas, Gerard Pique oder Xavi starteten zudem nicht in Topform ins Turnier. Vielleicht hat tatsächlich auch eine Rolle gespielt, dass die Mannschaft zumindest unterbewusst zu satt war. Von den Emporkömmlingen, die noch keinen WM- oder EM-Titel aufweisen konnten, standen zwar einige im Kader. Vertraut wurde aber fast ausnahmslos auf die alten Haudegen. Und: Die Mannschaft war zwar 25 Tage in der Vorbereitung zusammen, wirkte aber alles andere als austrainiert. Die Chilenen etwa spulten acht Kilometer mehr Laufleistung ab als der entthronte Weltmeister.
Muss jetzt der grosse Umbruch erfolgen?
Nein. Zwar sind einige wichtige Spieler in die Jahre gekommen und Xavi dürfte wohl in den kommenden Tagen seinen Rückzug aus der Seleccion bekanntgeben. Unter Umständen folgen ihm Xabi Alonso, Iker Casillas oder Fernando Torres. Die Vermutung liegt jedenfalls nahe, dass sie sich nicht mehr zu einer neuen Etappe in der Nationalmannschaft aufraffen können.
Ansonsten ist die Kaderstruktur aber so intakt, dass Spanien in relativ kurzer Zeit wieder eine Weltklasse-Mannschaft formen kann. Das Fundament ist weiterhin famos, die U 21 ist Europameister und bietet mit Isco, Thiago oder Asier Illarramendi drei der begehrtesten Nachwuchsspieler der Welt auf. Diese nun sinnvoll zu integrieren, dürfte eine der grossen Aufgaben des Trainerteams im Hinblick auf die EM in zwei Jahren in Frankreich werden. Mit der bedeutungslosen Partie gegen Australien sollte die Aufbauphase noch während der WM beginnen …
Kann Spaniens Fussball noch das Vorbild sein?
Über Jahre haben sich etliche Nationen daran versucht, die Spanier nachzuahmen - und sind teilweise kläglich daran gescheitert. Auch Joachim Löw hat den Stil des grossen Kontrahenten stets als vorbildlich genannt. Aber nicht nur die deutsche Nationalmannschaft hat erkannt, dass man Spanien nicht einfach so kopieren kann und hat deshalb angefangen, sich ihren eigenen Weg zu bahnen.
Die Italiener haben das geschafft, die südamerikanischen Mannschaften auch. Frankreich ist auf dem Weg dahin, die Engländer stehen noch ganz am Anfang. Jetzt ist es an Spanien, für sich selbst eine abgewandelte Form des Fussballs zu finden, ohne die eigene Identität aufzugeben. Ein "Tiki, taka, TOT", wie die "Bild" hämisch schreibt, wird es in Spanien jedenfalls nicht geben.
Was passiert mit Vicente del Bosque?
Eigentlich wollte der Grandseigneur nach der Weltmeisterschaft den Weg für einen Nachfolger freimachen. Der spanische Verband konnte ihn aber nochmals umstimmen und Del Bosque verlängerte seinen Kontrakt bis zum Sommer 2016 - also bis nach der EM in Frankreich. Er selbst wird sein Schicksal bestimmen, der Verband wird den Stoiker aus Salamanca ziemlich sicher nicht rauswerfen. "Ich werde keine Entschuldigungen suchen", sagte Del Bosque unmittelbar nach dem Ausscheiden. "Solche Ergebnisse haben immer Konsequenzen. Aber das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Wir müssen uns ein bisschen Zeit nehmen und analysieren, wie es weitergeht. Das gilt auch für meine Person."
Das kann alles und nichts heissen. Einen Nachfolger hätte Spanien auf die Schnelle wohl gar nicht parat. U-21-Trainer Julen Lopetegui hat im Land kein besonderes Standing und Gedankenspiele um Grössen wie etwa den überzeugten Katalanen Pep Guardiola oder Diego Simeone von Meister Atletico Madrid sind völlig aus der Luft gegriffen.
Verabschiedet sich Spanien aus dem Konzert der ganz Grossen?
Auf keinen Fall. Der Klubfussball ist der beste der Welt, die Zahl an Talenten ist nahezu endlos hoch, alleine in der U 21 tummelt sich ein Dutzend Spieler, die man sehr bald schon als Dauergäste in der A-Nationalmannschaft sehen wird. Spanien hat kein Strukturproblem, sondern im Moment einfach eine aus der Balance geratene Mannschaft.
Neben den bereits genannten Spielern werden schon bald Torwart David De Gea oder Kreativspieler Koke auf ihren Positionen eine tragende Rolle übernehmen können, dazu bleibt mit Iniesta, Sergio Ramos und Sergio Busquets das Gerüst ohnehin bestehen. Die Spanier werden bereits bei der Europameisterschaft in zwei Jahren wieder voll da sein.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.