Es ist das wohl denkwürdigste Spiel in der Geschichte der deutschen Nationalmannschaft: Die DFB-Elf bezwingt Brasilien im Halbfinale der WM 2014 mit sage und schreibe 7:1. Doch bei aller Euphorie: Den letzten Schritt müssen die Spieler von Joachim Löw am Sonntag im Finale gehen.
Unter den unzähligen Lobeshymnen, die nach dem surrealen 7:1-Sieg der deutschen Nationalmannschaft über Brasilien durch die sozialen Medien geisterten, war die von Steven Gerrard wohl die prägnanteste. "Brasilien hat Neymar. Argentinien hat Messi. Portugal hat Ronaldo. Deutschland hat ein Team!", jagte Englands Kapitän seine Sicht der Dinge ins Netz. Die DFB-Elf hat die Brasilianer bei deren Heim-WM aus dem Stadion geschossen und mehr als ein Dutzend neuer Rekorde aufgestellt.
Deutschland hat sich in seiner 4-3-3-Formation aufgestellt, die aber deutlich aggressiver und offensiver interpretiert wurde als noch gegen Frankreich. Die Mannschaft stellte den Gegner tief in dessen Hälfte, mit einer geordneten Staffelung in der Mittelfeldzone, die Brasilien überhaupt nicht zur Entfaltung kommen liess.
Brasilien in einer Reihe mit Zaire und Haiti
Die deutschen Spieler waren fokussiert und eiskalt in dem, was sie taten. Fünf Tore innerhalb von 18 Minuten gab es noch nie bei einer WM. Überhaupt führten die Statistiker bisher nur zwei Mannschaften, die fünf Gegentore in einer Halbzeit bei einer WM-Endrunde kassierten: Vor diesem denkwürdigen Abend waren das Zaire und Haiti. Und ab sofort auch Brasilien.
Noch nie gab es auf diesem Niveau eine Mannschaft, die der anderen derart ins offene Messer lief wie die Brasilianer den Deutschen. Trainer Luiz Felipe Scolari hatte dieselbe Taktik ausgegeben wie in den Partien zuvor: ein mehr oder weniger kontrolliertes Chaos - allerdings ohne die beiden Schlachtrösser Thiago Silva und Neymar, die bisher in der Defensive und in der Offensive den Laden zusammengehalten hatten.
Eine kaum nachvollziehbare Entscheidung Scolaris, der anscheinend den Faktoren Enthusiasmus und Leidenschaft eine zu grosse Rolle beimass und von einer klinisch-präzisen und fussballerisch übergrossen deutschen Mannschaft die Quittung bekam. Spätestens ab dem 0:2 war die Partie vorbei: Die Brasilianer wurden von der Erwartungshaltung förmlich erdrückt, und Deutschland nutzte den totalen Systemabsturz auf brutalste Weise aus.
"Die Deutschen haben heute wie Brasilianer gespielt. Es war der schlimmste Tag meines Lebens", sagte Scolari auf der Pressekonferenz danach. Wie ihm dürfte es ziemlich jedem der 200 Millionen Brasilianer gehen. Für die Selecao war es die höchste Niederlage ihrer Länderspielgeschichte. Zuletzt hatte es 1920 beim 0:6 gegen Chile eine ähnlich herbe Klatsche gesetzt.
Mannschaft statt Individualismus
Der Sieg war einer des Kollektivs gegen den Individualismus - das ist die zentrale Botschaft der Nacht von Belo Horizonte. Die Frage, die sich automatisch stellt: Muss Deutschland nach so einer Partie nicht Weltmeister werden? Die Spielausrichtung war gegen die leicht zu durchschauenden Brasilianer Gold wert. Aber die möglichen Gegner im Finale am Sonntag (21:00 Uhr, live in der ARD und bei uns im Ticker) werden ihre Lehren aus diesem Halbfinale ziehen. Und nicht jeder Coach wird es Bundestrainer Joachim Löw so leicht machen wie Scolari.
Noch ist unklar, gegen wen es am Sonntag geht: Argentinien oder die Niederlande. Das oberste Gebot für alle Beteiligten lautet jedoch, auf dem Teppich zu bleiben. Auch die Mannschaft hält sich an diesen Plan: In der Kabine im Estadio Mineirao sei es nach dem Triumph sehr ruhig gewesen, berichtete Mats Hummels.
Joachim Löw: "Bisschen Demut ist ganz gut"
"Wir sind Brasiliens Leidenschaft mit Abgebrühtheit und Klarheit entgegengetreten. Ein bisschen Demut ist jetzt auch ganz gut, es geht weiter. Wir müssen jetzt aufpassen, dass wir bis Sonntag konzentriert bleiben", sagte Löw auf der Pressekonferenz. Auch Toni Kroos gibt eine klare Linie vor: "Wir sind hier, um Weltmeister zu werden. Und wir sind es noch nicht!"
Als gutes Zeichen lässt sich der Ärger von Manuel Neuer interpretieren, als er beim Stand von 7:0 ein Gegentor kassierte. Das zeigt: Diese Mannschaft ist fokussiert und versucht, sich am Rande der Perfektion zu bewegen. Das wird nötig sein für den vierten WM-Titel.
Kein Spieler ist für das Finale gesperrt, lediglich Mats Hummels plagt sich mit einer Reizung im Kniegelenk herum. In den Tagen bis zum grössten Spiel in der Karriere von Mannschaft und Trainerteam wird die psychologische Vorbereitung in den Vordergrund rücken.
Die Gefahr steht im Raum, Deutschland habe im Halbfinale seinen Leistungshöhepunkt erreicht. Die Fallhöhe ist enorm. Selbst ein 7:1 über Brasilien in einer bereits zum "Jahrhundertspiel" ausgerufenen Partie ist wenig wert, wenn am Ende nicht der Titel steht.
Natürlich sind sich die Spieler der grossen Chance bewusst. Das Spiel der Spiele steht noch an. Und deshalb formulierte ein erfreulich sachlicher Bundestrainer am Ende eines denkwürdigen Abends den Arbeitstitel für die kommenden Tage: "Es sollte sich jetzt niemand unbesiegbar fühlen!"
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.