Ein handelsüblicher Zweikampf, eine sehr unglückliche Aktion des Gegenspielers - und die deutsche Nationalmannschaft machte sich ohne einen ihrer grössten Hoffnungsträger auf den Weg nach Brasilien.
Die Weltmeisterschaft findet ohne Marco Reus statt, weil der sich im letzten Testspiel Sekunden vor dem Pausenpfiff bei einer Allerweltsaktion im Mittelfeld so schwer verletzt hat, dass ihm der Riss des Syndesmoseband eine sechs- bis achtwöchige Pause beschert - und damit unweigerlich das Aus bei seinem bisherigen Karrierehöhepunkt.
"Ich weiss wirklich nicht, wie ich das in Worten ausdrücken soll, was ich gerade empfinde. Ein Traum ist von einer zur anderen Sekunde geplatzt", sagte Reus am Samstag der "Bild"-Zeitung.
"Für uns war es ein Schock", sagte Bundestrainer Joachim Löw nach Bekanntwerden der endgültigen Diagnose. Über Nacht hatte der Trainierstab noch leise Hoffnungen gehegt, dass Reus vielleicht doch noch zur Reisegruppe stossen könnte. Der Samstagmorgen brachte dann die bittere Erkenntnis.
Mit Reus verabschiedet sich nicht irgendein Spieler aus dem 23-Mann-Kader. Es hat zehn Tage vor dem ersten Gruppenspiel gegen Portugal einen absoluten Stammspieler erwischt - und für nicht wenige Experten denjenigen, der sowohl körperlich als auch leistungsmässig zum Saisonhighlight bei einhundert Prozent war.
Die Kollegen aus der Bundesliga haben ihn nicht umsonst zum Spieler der Saison gekürt, auf der linken Seite im offensiven Dreiermittelfeld war Reus selbstredend gesetzt. Und er war einer derjenige aus der zweiten Reihe hinter den absoluten Topstars des Fussballs, der bei diesem Turnier auf internationalem Parkett der Durchbruch zugetraut wurde.
Hätte, wäre, wenn: Jetzt fehlt der deutschen Mannschaft "eine Waffe", wie Miroslav Klose seinen Kollegen einordnete. Reus war mit seiner Dynamik und Technik als Speerspitze des offensiven Umschaltspiels eingeplant, und - was ein ebenso bitterer Aspekt ist - auch als Eckball- und Freistossschütze.
"Marco war super drauf. Er hat vor Spielfreude gesprüht. In unseren Überlegungen für Brasilien hat er eine zentrale Rolle gespielt", bedauert Löw. Der Bundestrainer muss in den Einheiten im Campo Bahia nach einer Alternative für den Dortmunder fahnden.
Da trifft es sich ganz gut, dass wenigstens die Alternativen im Moment einen sehr ordentlichen Eindruck hinterlassen. Lukas Podolski hat sich in den beiden Testspielen zuletzt sehr stark präsentiert. Vor exakt zehn Jahren gab Podolski sein Debüt im DFB-Dress, beim 0:2 gegen Ungarn wurden er und Bastian Schweinsteiger vo der EM 2004 erstmals eingesetzt.
Eine Dekade später wird aus dem bereits als Team-Maskottchen deklarierten Podolski womöglich eine ungemein wichtige Stütze der Mannschaft. Nicht nur neben, sondern plötzlich auch wieder auf dem Platz.
Löw hat stets am ehemaligen Kölner festgehalten, ihn auch gegen grossen Widerstand immer wieder protegiert und ihm auch Aussetzer wie im vermasselten EM-Halbfinale von Warschau vor zwei Jahren verziehen. Löw imponiert Podolskis Dynamik und sein Torinstinkt. "Wenn Lukas mit Zug in den Strafraum geht, ist er kaum mehr zu halten", sagt Löw.
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Derzeit scheint es, als setze Löw gegen die Portugiesen tatsächlich auf Podolski, 114 Länderspiele und 47 Tore schwer. Und eher nicht auf Andre Schürrle. Wenngleich der zuletzt auch ziemlich gut drauf war und sogar noch mehr Geschwindigkeit mitbringen würde als Podolski.
"Lukas und Andre sind körperlich sehr dynamisch, sehr stark. Man hat das Gefühl, sie haben in England, in der körperlich intensiven und sehr robusten Premier League, auch in diesen Bereichen zugelegt", lobt Löw die beiden Legionäre. Festlegen will er sich natürlich noch nicht, aber es spricht doch einiges für Podolski.
Gewissermassen mit Aussenseiterchancen gehen Mario Götze und Julian Draxler in die letzten Trainingstage. "Ich habe da genügend Alternativen", sagt Löw. Fest dürfte allerdings stehen, dass Mesut Özil in der Zentrale, wo Reus auch hätte auflaufen können, nun mehr oder weniger sicher gesetzt ist.
Dass Löw nach dem Ausfall eines Offensivspielers nun mit Shkodran Mustafi einen Innenverteidiger nachnominierte, hat viele verblüfft. Als natürlichen Reflex hätten sich die meisten wohl einen wie Max Kruse oder Kevin Volland gewünscht. Allerdings hat Reus‘ Ausfall die Hierarchie so durcheinandergewürfelt, dass sich Löw mit der Anzahl von 14 "Gesetzten" in seiner Mannschaft begnügt.
Also genau mit der Zahl an Spielern, die er in jeder Partie maximal einsetzen kann und wird. Die restlichen neun Spieler, zu denen ab sofort auch Mustafi gehört, sind eher die Notlösungen im Kader. Und bei denen kommt es ganz besonders auch darauf an, dass sie sich integrieren und über vier Wochen lang mannschaftsdienlich verhalten können.
In spieltaktischer Hinsicht und am Gefüge der Mannschaft wird Löw in den letzten Tagen nichts mehr ändern. Insofern ist Mustafis Nominierung vielleicht ungewöhnlich, aber nachvollziehbar.
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