Jetzt ist es nicht mehr billiger Populismus oder ein künstlich geschaffenes Schreckensszenario, jetzt ist es bittere Realität: Deutschland ist bei der Weltmeisterschaft als Titelverteidiger in der Gruppenphase gescheitert. Das schlechteste Abschneiden der Geschichte ist eine Zäsur, aber es hat eine Geschichte. Acht Gründe für das peinliche WM-Aus.
Deutschland ist sehenden Auges ins Verderben geschliddert, das Aus war kein Zufall oder ein Betriebsunfall, wie es in den kommenden Tagen vermutlich von einigen Offiziellen und Beobachtern dargestellt werden wird.
Es hatte sich angedeutet, vielleicht nicht ganz so früh im Turnier - aber dass Deutschland nach den letzten Wochen und Monaten nichts mit der Titelvergabe zu tun haben würde, war mehr als ein Geheimtipp.
Acht Gründe für das peinliche WM-Aus
Die Gründe für das Ausscheiden sind vielschichtig, nicht nur Löw und sein Trainerteam haben einen Anteil daran - sondern auch Manager
1. Die fehlende spielerische und spieltaktische Klasse
Deutschland galt als einer der Topfavoriten - wegen des eigenen Anspruchs, wegen des Confed-Cup-Sieges vor einem Jahr und natürlich dem WM-Titel von vor vier Jahren.
Immer wieder wurde angeführt, dass man mit so einem Kader und mit so viel individueller Klasse jeden Titel holen kann.
Auf dem Platz war davon dann aber nicht mehr viel übrig. Verschlimmert wurde diese Tatsache durch ein taktisches Konzept, das allenfalls gegen die Schweden in einer Halbzeit gegriffen hat.
Eine starke Halbzeit von sechs ist einfach zu wenig, Löw hielt trotzdem fast ausschliesslich an seinem konservativen 4-2-3-1 fest.
Deutschlands Positionsspiel war zudem einfach nicht sauber, die Abläufe waren nicht synchron, Löws In-Game-Coaching griff so gut wie gar nicht. Nicht nur gegen Mexiko überliess der Bundestrainer die Partie viel zu lange sich selbst, bevor er von aussen Einfluss nehmen wollte.
2. Die schwache Form der Spieler
Müller, Khedira und
Für den ganz grossen Wurf muss alles passen, die Spannungskurve in einem langen Turnier, die Verfassung der Spieler, sowohl mental als auch körperlich.
Aber zu vielen deutschen Spielern, gerade den etablierten, fehlte es offenbar an der Haltung zu diesem Turnier. Die vielen Hinfaller gegen Mexiko und auch gegen Südkorea waren ein Sinnbild für einen etwas zu satten Titelverteidiger, der sich auf seinem Weltmeisterbonus ausruhen und die Gruppenphase im Vorbeigehen überstehen wollte.
Diese Laissez-faire-Einstellung zog sich nicht nur durch die letzten Testspiele, sondern komplett durchs Turnier.
Nur ganz kurz flackerte so etwas wie der unbedingte Wille zum Gewinnen auf, in der Nachspielzeit gegen Schweden. Es hätte ein Wendepunkt werden können, wurde aber stattdessen von mehreren Spielern dazu genutzt, um noch einmal über die Berichterstattung nach dem wirklich schwachen Mexiko-Spiel zu schimpfen.
3. Die fehlende Frische
Wenn man sich seit Jahrzehnten auf eine Sache verlassen konnte, dann auf eine geistig und körperlich topfitte deutsche Nationalmannschaft.
In einigen Turnieren früherer Jahre rumpelte Deutschland mit seinem Kraftfussball nur so bis ins Endspiel, die Gegner fürchteten sich regelrecht vor der deutschen Fitness. In Russland war davon rein gar nichts zu sehen.
Die Mannschaft wirkte lethargisch im Kopf und müde in den Beinen. In allen drei Spielen konnte Deutschland in der Schlussphase nicht nochmal einen Gang höher schalten, gegen Südkorea wirkte die Mannschaft wie ein Schwergewichtsboxer in der zwölften Runde.
Dabei spielte Deutschland in jeder Partie reinen Ballbesitzfussball, liess also den Gegner laufen und musste nicht selbst dauernd hinterherlaufen.
Vielleicht waren die Spieler nicht austrainiert, vielleicht mürbe von einer langen Saison - oder, noch schlimmer: Der Trainerstab legte im sicheren Gefühl der Überlegenheit in der Gruppe die Trainings- und Belastungssteuerung so aus, dass die Mannschaft in der K.o.-Phase ihr grösstmögliches Leistungsvermögen erreichen sollte. Ein fataler Irrtum.
4. Löws Zickzack-Kurs
So treu sich der Bundestrainer bei der Wahl seiner Grundordnung und seines Spielsystems blieb, so wankelmütig wurde er bei der Wahl seines Personals.
Bis auf Matthias Ginter wurden alle 20 Feldspieler eingesetzt. Löw probierte und experimentierte, fand auf neuralgischen Positionen wie der Doppel-Sechs keine Formation und wenn er die richtige Idee hatte, wie im Fall von Sebastian Rudy neben
Löws nüchterner Pragmatismus, der ihn und die Mannschaft vor vier Jahren zum Titel geführt hat - Stichwort Viererkette mit drei Innenverteidigern, Stichwort Mittelfeldstratege Philipp Lahm, Stichwort falsche Neun - wurde in Russland geopfert oder war in der Art nicht mehr darstellbar. Löw blieb dogmatisch - und fuhr damit voll gegen die Wand.
Und der Bundestrainer hat sich selbst einer Option beraubt, die noch wichtig hätte werden können: In gewisser Weise war die Ausbootung von Leroy Sane nachvollziehbar.
Aber nicht zuletzt das Südkorea-Spiel hat gezeigt, wie stark die linke Angriffsseite gegen die rechte abfiel. Vier Flanken segelten von links in den gegnerischen Strafraum 29 waren es von der rechten Seite.
Die Entscheidung um Sane war ein Knackpunkt und fällt Löw nun wieder vor die Füsse.
5. Die schlechte Teamharmonie
Es hatte sich angedeutet in den letzten Monaten: Es stimmt(e) nicht innerhalb der Mannschaft.
Die versuchten Weckrufe von Kroos und Mats Hummels wurden über Monate hinweg geflissentlich übergangen, die Aussprache nach dem Mexiko-Desaster fruchtete genau eine Halbzeit lang gegen Schweden.
Davor und danach entwickelte die Mannschaft keinerlei Teamgeist und die durch Kroos‘ heraufbeschworene Wagenburgmentalität "Wir gegen den Rest der Welt" zerbröckelte gegen Südkorea wie eine morsche Zugbrücke.
6. Das Drumherum
In Brasilien wurde Oliver Bierhoff für die Auswahl des Campo Bahia in den Himmel gelobt. Die Mannschaft konnte sich stets zurückziehen auf ihre Insel, alles andere weit hinter sich lassen, in einer traumhaften Atmosphäre arbeiten, Kraft tanken und doch ein wenig WM-Flair vor der Haustür geniessen.
In Watutinki war der Tross kaserniert, von mürrischen Aufpassern und sehr viel Wäldern umgeben und wohnte in einer besseren Sportschule. Das mag auf manche wie ein irrelevanter Baustein wirken, für das Binnenklima aber ist er essentiell wichtig.
7. Der Marketingirrsinn
Der DFB hat sich gefühlt mehr Gedanken über die Vermarktung seiner Kicker gemacht als über eine intensive Turniervorbereitung auf dem Platz.
Sinnfreie Hashtags und Claims überschwemmten die sozialen Netzwerke, "Die Mannschaft", "zsmmn" oder "Best NeVer rest", dazu der "Fanclub Nationalmannschaft powered by Coca-Cola" sind die Auswüchse einer Blase, die früher oder später zum Platzen verdammt war.
Das alles vermittelt ein befremdliches Gefühl, vor allem bei den rein sportlich interessierten Fans, die am Ende doch nur Kunden sein sollen.
Und es rückt die Spieler nur noch weiter weg, sie werden steril. Und auch der eine oder andere Fussballer könnte sich durchaus überlegen, ob er lieber Star auf dem Platz oder daneben oder in sozialen Netzwerken sein will.
Wobei: Nahbar ist beim DFB schon lange kein Protagonist mehr.
8. Der Umgang mit Erdo-Gate
Mesut Özils und Ilkay Gündogans Fehler sind nun rauf und runter diskutiert worden, ebenso wie der freche (Özil) beziehungsweise halbherzige (Gündogan) Umgang der beiden Spieler im Nachgang damit.
Aber: Wie der DFB versucht hat, sich der Sache zu entledigen, sie selbst zu beenden ohne dabei klar Stellung zu beziehen und damit einen Brandherd über Wochen hat schwelen lassen, war fahrlässig.
Hier ist auch Präsident Reinhard Grindel zu nennen, der im besten Politikersprech versucht hat, die Sache unter den Teppich zu kehren. Ein Machtwort des Präsidenten wäre angebracht gewesen.
Grindel wollte die Sache nach der WM nochmals aufrollen und klären. Das kann er nun deutlich früher als gedacht machen.
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