Deutschlands WM-Fehlstart gegen Mexiko hat massive Defensivprobleme offenbart. Bundestrainer Joachim Löw ist im Endspiel gegen Schweden gefordert - vor allem für die löchrige Abwehr muss er Lösungen finden.

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Man kann das alles kurz und knapp und für jeden Laien verständlich formulieren, so wie das Mats Hummels getan hat: "Wenn sieben oder acht Mann offensiv spielen, ist es klar, dass die offensive Wucht grösser ist als die defensive Stabilität, und dass die Absicherung nicht passt", sagte der Verteidiger nach dem besorgniserregenden 0:1 der deutschen Nationalmannschaft gegen Mexiko.

Oder Jerome Boateng: "Wenn einer nach vorn geht, muss der andere hinten bleiben, sodass man eine Absicherung hat. Genau das haben wir heute leider vermissen lassen. Du kannst nicht in einer Halbzeit in fünf Konter rennen."

Es waren nicht zufällig die beiden Innenverteidiger, die nach der Partie am Sonntag einen Teil der Missstände am deutlichsten ansprachen.

Hummels und Boateng waren es, die mehr als ein halbes Dutzend Mal alleine gelassen wurden von den Kollegen und sich einer Überzahl mexikanischer Gegner gegenübersahen, die mit höchster Geschwindigkeit auf die beiden verbliebenen deutschen Abwehrspieler zurasten.

Jeder konnte das sehen, was Marco Reus, der sich das Treiben eine Stunde lang von der Bank aus anschauen musste, so formulierte: "Es war in der ersten Halbzeit so, dass wir in zwei Hälften geteilt waren."

Überrascht und überrumpelt

Eigentlich war es noch dramatischer, die deutsche Mannschaft hatte in der so genannten Restverteidigung nur seine beiden Innenverteidiger stehen und Manuel Neuer.

Da war kein Aussenverteidiger mehr und kein Sechser. Nur deshalb waren Spieler wie Thomas Müller oder Mesut Özil wie beim Gegentor im eigenen Strafraum zu finden, wenn die Mexikaner mal wieder einen ihrer Konter fahren konnten.

Müller, Özil - offensive Mittelfeldspieler, die mit den längsten Wegen zurück, sollte man meinen.

Die deutsche Mannschaft wurde gegen Mexiko in genau der Art zerlegt, wie sie selbst noch in den Turnieren 2010 und 2014 Grössen wie England, Argentinien oder Brasilien in der Luft zerriss.

Das macht es noch bitterer für Joachim Löw, der gegen die giftigen Mexikaner keine Lösungen fand und die Partie eine gute Stunde lang einfach sich selbst überliess - obwohl spätestens nach dem dritten gefährlichen Konter des Gegners klar war, dass die vorher gewählte Marschroute beziehungsweise deren Interpretation der Mannschaft ins sportliche Verderben führen würde.

Nun ist die deutsche Mannschaft ja der Titelverteidiger. Der Selbstanspruch des Teams ist: Wir spielen einen aktiven, offensiven Fussball. Hoher Ballbesitz, schnelle Kombinationen und mutige Momente im Angriffsdrittel.

Deutschland hatte sich darauf vorbereitet, von den Mexikanern schnell attackiert und im Spielaufbau gestört zu werden - und wurde dann überrascht, dass der Gegner nichts davon wissen wollte. Stattdessen wartete Mexiko ab, postierte zwei oder drei Spieler vorne, die nach Balleroberung sofort in die übergrossen Räume starten konnten.

Erinnerungen an Italien

Ein wenig erinnerte die Partie an eine der grössten Niederlagen Löws als Bundestrainer: Das Ausscheiden im EM-Halbfinale gegen Italien vor sechs Jahren wurde dem Coach angehängt. Wegen einer falschen Taktik und wegen falscher Personalentscheidungen.

Dabei war die grundsätzliche Idee damals nicht verkehrt und Toni Kroos‘ Berufung als Sonderbewacher von Andrea Pirlo auch nachvollziehbar.

Aber: Löw reagierte viel zu spät auf das, was schnell ersichtlich war: dass sein Plan nicht aufgehen würde und dass die Italiener bessere Antworten hatten. Das war der eigentliche Fehler, nicht die Aufstellung oder die Ausrichtung damals.

Und so verhielt es sich auch gegen Mexiko. Selbstverständlich muss Deutschland einen Gegner wie Mexiko mit "seinem" Fussball bespielen. Mit Mut und Risiko.

Aber eben auch mit defensiver Stabilität, mit einem funktionierenden Gegenpressing und einer Konterabsicherung, die ihren Namen verdient.

Das gelang nur vereinzelt. Die Spieler standen schon bei eigenem Ballbesitz zu weit auseinander. Keiner der beiden Sechser Kroos und Sami Khedira sicherte nach hinten ab, um wenigstens das Zentrum geschlossen zu halten.

So kamen die Mexikaner zu einem Packingwert von 60 - sie konnten im eigenen Ballbesitz und fast ausschliesslich bei Konterattacken also insgesamt 60 deutsche Spieler überspielen.

Schlechter war nur Saudi-Arabien im Eröffnungsspiel gegen die Russen mit 70 überspielten Spielern. Zum Vergleich: Frankreich gestattete Australien eine Packingrate von lediglich neun.

Es gibt genug Hoffnung gegen Schweden

Für die Partie gegen die Schweden, das erste von nun mindestens zwei Endspielen, gibt es trotzdem Hoffnung.

Die Schweden dürften nicht so riskant verteidigen, wie Mexiko das tat. Im 4-4-2 müssen beide Angreifer dauerhaft mit nach hinten arbeiten und können nicht vorne stehen bleiben und auf Anspiele lauern.

Das macht die Verteidigung gegen einen solchen Gegner deutlich einfacher und das Ziel, sich den Gegner vor dessen eigenen Strafraum zurechtzulegen, wohl auch leichter erreichbar.

Die Statik im deutschen Spiel ist darauf ausgelegt, den Gegner über viel Kontrolle und Passspiel auseinanderzuziehen.

Dann ist die Mannschaft am wuchtigsten, und dann kommen auch die Stärken wichtiger Spieler wie Kroos, Özil oder Müller besser zum Tragen.

Denn auf besonders viele Umschaltmomente in der Offensive wird Deutschland gegen die Schweden nicht hoffen dürfen.

Dafür verteidigt die Tre Kronor viel zu tief - und auch immer mit mindestens sechs Spielern in der Restverteidigung.

Alle taktischen Überlegungen sind nur dann erfolgreich, wenn sich an deren Umsetzung wirklich jeder auf dem Platz zu jeder Zeit beteiligt. Und wenn die Mannschaft eine völlig andere Mentalität, Einstellung und Kommunikation an den Tag legt, als gegen Mexiko.

"Wir müssen viel mehr reden auf dem Platz: Wir hatten vier oder fünf Ballverluste, wo ein Gegenspieler von hinten kommt und keiner sagt was", meinte Boateng nach dem Mexiko-Spiel.

Deutschland wird sich tatsächlich in allen Bereichen deutlich verbessern müssen. Sonst erlebt die Mannschaft die zweite Turnierhälfte nur noch zu Hause auf dem Sofa.

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