Der vorläufige deutsche Kader für die WM 2018 in Russland steht fest, Fragezeichen gibt es dennoch einige. Besonders schwierig gestaltet sich weiterhin die Situation von Manuel Neuer. Noch hat die eigentliche Nummer eins der DFB-Elf keinerlei Spielpraxis, Ex-Nationalspieler Marcell Jansen hat dazu eine glasklare Meinung, wie er uns im Exklusiv-Interview verrät.

Ein Interview

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Als 46-maliger Nationalspieler kennt Marcell Jansen das Kitzeln noch genau, wenn es um die Frage geht, ob man mit der deutschen Nationalmannschaft zu den grossen Turnieren fahren darf. Bei der EM 2008 und der WM 2010 war er dabei, ausgerechnet im Weltmeisterjahr 2014 bremste ihn eine Verletzung aus.

2015 beendete Jansen für viele völlig überraschend seine Karriere, dennoch fiebert der ehemalige HSV- und Bayern-Spieler weiterhin mit der DFB-Elf mit.

Jogi Löw hat seinen vorläufigen WM-Kader vorgestellt. Welcher Spieler ist für Sie die grösste Überraschung?

Marcell Jansen: Was heisst da grösste Überraschung? So wird das zwar wahrgenommen, aber am Ende ist seine Nominierung eigentlich überhaupt keine Überraschung mehr, wenn man nach Leistung geht: Nils Petersen.

Als ich das gehört habe, war auch bei mir zwar erst einmal die Überraschung da, aber er hat das einfach verdient und er gehört da hin. Wer beim SC Freiburg so viele Tore macht, wer technisch so versiert ist, wer Olympia so entscheidend mitgeprägt hat, der gehört in die Nationalmannschaft. Für mich ist seine Nominierung total nachvollziehbar.

Gibt es einen Spieler, der nicht berücksichtigt wurde, der Ihnen besonders leid tut?

Es tut mir für alle Jungs gleich leid. Ich kenne solche Situationen ja auch. Ich selbst hatte zwar das Glück, dass ich bei den Turnieren (EM 2008, WM 2010, Anm. d. Red.) immer mitgefahren und nicht kurz vorher ausgeschieden bin. Aber ich habe das natürlich bei Freunden von mir, bei Mannschaftskameraden, mitbekommen.

Der Bundestrainer kann nur 23 Spieler mitnehmen, wobei ich glaube, dass Sandro Wagner, so wie er sich nach aussen gibt, mit seinem breiten Kreuz, diese Entscheidung gut verkraften wird. (Das Interview wurde wenige Stunden vor Wagners Nationalmannschaftsrücktritt geführt, Anm. d. Red.)

Nach der Kaderverkündigung sollen bei Sandro Wagner im Bayern-Training dennoch bittere Tränen geflossen sein. Wer kann den Spieler in so einem Moment auffangen? Die Mannschaft, der Trainer – oder viel mehr doch das private Umfeld?

Ich glaube, Sandro ist ein Typ, der das abschütteln kann. Wenn er mal zurückverfolgt, wie sich seine Karriere in den letzten Jahren entwickelt hat, vom Nicht-immer-Stammspieler bei Hertha, dann zu Darmstadt und dass er jetzt mit Bayern München wieder seinen Verein gefunden hat, dann ist das eine Bilderbuchkarriere.

Er wird jetzt ein, zwei Tage brauchen, weil es natürlich ein Traum ist für Deutschland bei der WM zu spielen. Ich glaube aber nicht, dass er sich da bei Freunden und Familie anlehnen muss, so ein Typ ist er nicht.

Er hat schon ganz andere Tiefen durchgemacht.

Jogi Löw hat gesagt: "Mein Job ist es auch, Träume platzen zu lassen". Ist er jemand, der solche Gespräche gut moderieren kann?

In dem Moment, wo der Trainer dir sagt, dass es nicht gereicht hat, ist es vorbei. Da ist es völlig egal, was der Trainer danach noch sagt. Du weisst erst mal, es ist jetzt so und die neue Saison geht von null los. Da kann man sich wieder empfehlen und dann werden die Karten auch neu gemischt.

Jansen: "Neuer ist der beste Torhüter der Welt"

Manuel Neuer steht zwar im vorläufigen Kader, der Bundestrainer hat jedoch deutlich gemacht, dass er ihn ohne Spielpraxis nicht mit nach Russland nehmen wird. Nun kann Neuer maximal noch zwei offizielle Testspiele bestreiten. Kann das reichen?

Ich glaube, dass da alle Beteiligten ganz genau wissen, was sie tun. Ich kann verstehen, dass sie bis zuletzt die Hoffnung nicht aufgeben möchten, Manuel Neuer mit zur WM zu nehmen.

Neuer ist der beste Torhüter der Welt, er ist zweimal hintereinander Welttorhüter geworden. Natürlich muss ich versuchen, so jemanden mitzunehmen. Bei der Wichtigkeit des Spielers steht das ausser Frage.

Ich denke, wenn Manuel in der Lage ist, im Training voll belastbar zu sein und dann noch ein Spiel über 90 Minuten zu machen, oder vielleicht sogar zwei, dann wäre ich froh als Bundestrainer, Manuel Neuer mit zum Turnier nehmen zu können.

Würde es vielleicht Sinn ergeben, ihn zumindest als Nummer zwei oder Nummer drei mitzunehmen – einfach, um ihn als wichtige Persönlichkeit und Kapitän mit im Team zu haben?

Ich glaube, wenn Neuer voll belasten kann und auch im Training und in Spielen seine Leistung zeigt, dann muss man ihn nicht als Stimmungsmacher mitnehmen, der sich um die Spieler kümmert. Wir reden hier vom besten Torhüter der Welt. Er spielt in einer Kategorie mit Cristiano Ronaldo und Lionel Messi. Wir reden hier nicht von irgendeinem Spieler, sondern von Manuel Neuer.

Natürlich muss er gesund sein und sich selbst wohlfühlen, und ich glaube auch, dass Jogi Löw und sein Trainerteam mit Torwarttrainer Andi Köpke Neuer ganz genau beobachten, wie die Trainings und Spiele sind, wie weit er sich fühlt. Denn natürlich haben wir mit Marc-André ter Stegen einen Weltklassetorhüter dahinter, der ohne Probleme in die Fussstapfen von Manuel Neuer treten kann. Da hat Deutschland ein Luxusproblem.

Ich denke, dass man die Testspiele und die Trainingsleistung abwarten und dann eine vernünftige Entscheidung treffen wird.

Von Neuer wird immer wieder gefordert, er selbst müsse ehrlich sagen, wie es ihm gehe, ob er sich in der Lage fühle, dieses Turnier zu spielen. Aber wie ehrlich kann ein Spieler in einer solchen Situation sein?

Manuel Neuer ist jetzt keine 18 oder 19 Jahre mehr alt, der kann sich selbst richtig einschätzen. Und er weiss auch, dass er ein Backup hat. Marc-André ter Stegen macht einen sehr guten Job beim FC Barcelona, ist ein Top-Junge, oder auch Kevin Trapp und Bernd Leno. Da sind wir super aufgestellt.

Ich glaube, dass Manuel Neuer ein positives Signal geben wird, wenn er an seine Leistungsgrenze gehen kann, von der Fitness her. Und da ist es sein Vorteil, dass das bei Torhütern nicht ganz so dramatisch ist wie bei Feldspielern.

"Es darf sich keiner sicher fühlen"

Wer wird es schwer haben in diesem vorläufigen 27-Mann-Kader, wenn man mal von der Torwartfrage absieht? Immerhin muss Löw noch vier Spieler streichen.

Das wäre jetzt Spekulation auf ganz hohem Niveau. Ich glaube aber – und das muss auch das Ziel sein -, dass der Konkurrenzkampf so gross ist, dass sich überhaupt niemand sicher fühlen kann. Das wäre das Beste. Denn dann nimmt man zum Schluss die mit, die im Moment noch die paar Prozent besser sind. Manchmal sind das dann auch harte Entscheidungen, bei denen dann nur das Bauchgefühl hilft und nicht die Trainingseindrücke und die Testspiele. Vielleicht noch ein bisschen die Taktik und die strategische Ausrichtung für das Turnier.

Ich hoffe jedenfalls, dass der Konkurrenzkampf noch einmal richtig entfacht wird und bei der WM 23 Spieler dabei sind, die alle auf höchstem Niveau mitspielen können.

Einen Tag vor der Bekanntgabe des deutschen Kaders haben Ilkay Gündogan und Mesut Özil mit einem Besuch beim türkischen Präsidenten Erdogan für Diskussionen gesorgt. Wie sehen Sie die Aktion der beiden?

Sehr unglücklich. Am Ende muss der DFB das mit seinen Spielern besprechen. Aber da möchte ich gar nicht mehr dazu sagen, ausser, dass auch der Zeitpunkt sehr unglücklich gewählt war.

Sollten sich Sportler von der Politik möglichst gleich fernhalten? Oder ist es ok, auch als Fussballer öffentlich für eine Position einzustehen – den aktuellen Fall mal ausgeklammert?

Wir müssen da aufpassen, dass wir uns nicht in Scheinheiligkeit verlieren. Denn dass immer wieder Politiker auf der Tribüne sitzen oder in die Kabine der Nationalmannschaft kommen, wissen wir natürlich auch.

Anstatt dass man Spielern diese politische Dimension anheftet, stellt sich die Frage doch eher andersherum: Ist es ok, dass sich die Politik so gerne im Fussball sieht?

Sie sind 2008 mit dem FC Bayern vorzeitig Deutscher Meister geworden, haben danach noch das DFB-Pokalfinale gewonnen und schliesslich auch noch bei der EM gespielt. Haben Sie bei sich selbst zu irgendeinem Punkt ein gewisses Gefühl der Sättigung festgestellt? Oder entwickelt man da als Spieler Tricks oder Mechanismen um die Spannung auch über so einen langen Zeitraum hochzuhalten?

Also wenn ein Verein das gelebt hat und das kann, dann ist das Bayern München. Die schaffen es wirklich, nie zufrieden zu sein. Wenn man die Saison schon wieder sieht, wie früh sie Meister waren und das trotzdem – mal vom letzten Bundesliga-Spiel abgesehen – durchgezogen haben, Hut ab. Das ist Bayern. Das ist das Bayern-Gen, immer hungrig zu sein, nie satt zu sein. Ich habe das selbst als Spieler mitbekommen.

Ich bin als Mensch vom Naturell her aber ohnehin so, dass ich mir immer eigene Ziele stecke, so wie ich mir auch unabhängig vom Fussball schon meine eigenen Ziele gesteckt habe, die in ich 20, 30 Jahren erreichen möchte. Ich glaube, das ist einfach Typ-Sache.

Jansen zum HSV: "Müssen Zweitliga-Thema annehmen"

Seit Februar sind Sie Mitglied im Aufsichtsrat des HSV – wie haben Sie den Abstieg erlebt und wie sieht der Plan des Vereins für die Zukunft aus?

Uns Neuen im Aufsichtsrat war allen bewusst, dass da eine Aufgabe auf uns zukommt. Diese Aufgabe haben wir gerne angenommen für den Verein, und ich glaube, seit Februar/März, mit der neuen Konstellation, hat man auch gesehen, dass wir auf einem richtigen Weg sind. Jetzt gilt es einfach, da weiter hartnäckig dranzubleiben. Eben auch weiter für den Erfolg und die Strategie der nächsten Jahre zu kämpfen, etwas aufzubauen. Einfach diesen Weg so weiter zu beschreiten, den wir in den letzten Wochen und Monaten schon gegangen sind. Und am besten noch einen draufzusetzen.

Jetzt müssen wir das Zweitliga-Thema annehmen, obwohl wir wissen, wie schwierig das ist.

Die Fans haben Sie auf jeden Fall im Rücken. Das ist in den vergangenen Spieltagen noch einmal ganz deutlich geworden.

Ich glaube, die 98 oder 99 Prozent der Fans haben das genau so gespiegelt, was wir die letzten Wochen und Monate wahrgenommen haben, diese Idee, wie man den HSV in der Zukunft sieht. Wir sind sehr dankbar, solche Fans und so eine Stadt mit einer Jetzt-erst-recht-Mentalität im Rücken zu haben. Und wir haben in den letzten zwei Wochen ca. 1.700 neue Mitglieder dazubekommen. Das zeigt die wirkliche Seele und das Herz, das die Fans mit diesem Verein verbinden. Eine absolute Identifikation mit der Stadt und dem Verein.

Appell an junge Fussballprofis

Vor Kurzem haben Sie ihre App Picue vorgestellt. Die Idee dazu soll Ihnen schon während Ihrer aktiven Zeit gekommen sein. Damit fallen Sie im Kreise der Fussballprofis doch sehr aus dem Rahmen. Die meisten scheinen sich erst kurz vor Schluss Gedanken um ihre weitere Zukunft zu machen und hängen dann häufig etwas in der Luft. Was würden Sie jungen Fussballern heutzutage raten – vor allem in Hinblick auf ihre Zukunftsgestaltung?

Ich würde den Spielern auf jeden Fall raten, hungrig zu bleiben und sich auch Wissen neben dem Fussball anzueignen. Sich mit Menschen zu unterhalten, die aus anderen Bereichen kommen, andere Themen machen. Selbst zu gucken, welche Themen einen interessieren können. Das Leben nach dem Karriereende ist noch verdammt lang und als Leistungssportler möchte man natürlich auch weiter Leistung bringen, in der Früh aufstehen und arbeiten. Deshalb muss man sich schon während der aktiven Zeit extrem damit auseinandersetzen, schon mal das ein oder andere ausprobieren.

Und die abschliessende Frage, um die in den nächsten Wochen wohl kein Experte herumkommt: Wird Deutschland wieder Weltmeister?

Ich halte das für sehr wahrscheinlich, deshalb sage ich: Ja.

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