Joachim Löw überrascht bei der Nominierung für die WM in Russland mit der einen oder anderen Personalie. Der vorläufige Kader ist sowohl in der Breite als auch in der Tiefe teilweise überragend besetzt, weist aber auch noch einige Baustellen auf. Eine Analyse.

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Die Kaderanalyse:

Mit 27 Spielern geht Joachim Löw das Trainingslager in Südtirol an und bleibt seiner Linie damit treu: Bereits vor den letzten grossen Turnieren hatte der Bundestrainer mehr als die letztlich von den Verbänden geforderten 23 Spieler ins vorläufige Aufgebot berufen, um sich vor Ort und über einen längeren Zeitraum ein Bild machen zu können.

Das Rätselraten um Manuel Neuers Spieltauglichkeit führt nun zu der besonderen Konstellation, dass Löw sogar vier Torhüter mitnimmt. Das ist ein klares Zeichen dafür, dass Löw bis auf den letzten Drücker abwarten will, um eine Entscheidung für oder wider Neuer zu treffen.

Der Kapitän ist ein elementarer Bestandteil der Mannschaft, auch abseits des Platzes als integrativer Faktor wichtig - insbesondere bei einem Turnier, das sich inklusive der Vorbereitungszeit im besten Fall über mehrere Wochen erstreckt und wo die Teamhygiene ein wichtiger Faktor werden wird.

Löw nimmt neun Abwehrspieler mit, darunter sind sechs gelernte Innenverteidiger. Bleibt Löw bei der zu erwartenden Viererkette in der Defensive mit zwei Innenverteidigerpositionen, dann dürfte es dort einen enormen Konkurrenzkampf geben - wenngleich Mats Hummels und Jerome Boateng gesetzt sind.

Im Mittelfeld hat Löw eine gute Mischung aus Passspielern und Kämpfern, aus Kreativität und Körperlichkeit zusammengestellt. Im Angriff zwar drei recht unterschiedliche Spieler, aber auch ein kleines Problem.

Das sind die Überraschungen im Kader:

"Mein Job ist manchmal leider auch, Träume platzen zu lassen. Das ist nie eine Entscheidung gegen einen Spieler, sondern immer im Sinne der Mannschaft. Manchmal hängt es an Kleinigkeiten." Das sagte Löw bei der Präsentation.

Oft kam in den letzten Jahren die fast schon sprichwörtliche Loyalität des Bundestrainers für verdiente Spieler zur Sprache - aber davon hat sich Löw nun einmal mehr freimachen müssen bei seiner Auswahl.

Für Mario Götze hat es nicht gereicht. Dafür war Götzes Saison zu unbeständig, der Spieler schwankte ebenso zwischen Höhen und Tiefen wie seine wankelmütige Mannschaft, dazu kamen ein paar Verletzungen. "Er konnte seine Qualität in der Saison nicht so zeigen. Es tut mir für ihn persönlich leid und es fällt mir schwer, weil ich weiss, was er die letzten Jahre geleistet hat", sagte Löw.

Der Siegtorschütze vom WM-Finale 2014 ist die Speerspitze enttäuschter BVB-Spieler, zu denen auch Andre Schürrle und Julian Weigl gehören, die es ebenfalls nicht in den Kader geschafft haben.

Sandro Wagner ist aus mehreren Gründen im Winter von Hoffenheim nach München gewechselt. Einer davon war die Aussicht, sich bei den Bayern in einem grossen Klub in den ganz grossen Spielen der Champions League zu präsentieren. Das hat nun nicht geklappt.

Nils Petersen dagegen hat einst den FC Bayern verlassen, um im Klub wieder Spielpraxis zu bekommen. Das hat dann im Hinblick auf Olympia vor zwei Jahren schon funktioniert und Freiburg war auch jetzt eine gute Plattform, um sich für die A-Nationalmannschaft anzubieten.

Jonathan Tahs Nominierung ist zumindest ein bisschen ungewöhnlich. Tah war länger verletzt, kommt mit relativ wenig Spielpraxis beim Nationalteam an. Die Vorzüge Tahs möchte Löw aber offenbar nicht missen. Ähnlich sieht es bei Rudy aus, der zuletzt bei den Bayern kaum noch ein Thema war.

So stark ist der Kader:

Deutschland ist auf allen Positionen mindestens doppelt besetzt, auf einigen Planstellen sogar doppelt mit Weltklassespielern besetzt. Gerade im Mittelfeld tummelt sich so viel Klasse, dass Löw die Qual der Wahl haben wird.

Es gibt nur eine Ausnahme: Für die Position des Rechtsverteidigers hat Löw nur eine 1A-Lösung mit Joshua Kimmich, dahinter gibt es mit Matthias Ginter, Antonio Rüdiger und Sebastian Rudy drei Alternativen, die aber positionsfremd eingesetzt werden müssten.

Auch mit Marc-Andre ter Stegen im Tor hätte die Mannschaft wohl kaum einen Qualitätsverlust zu beklagen, Ter Stegen hat in Barcelona überragend gehalten. Mit einem fitten Boateng und Hummels, sowie Jonas Hector und Kimmich auf den Aussenbahnen ist die Mannschaft sehr gut aufgestellt, im Mittelfeld kann Löw auf Grund der vielen verschiedenen Spielertypen auch ungeheuer gut variieren.

Im Angriff fehlt es Löw ein wenig an der absoluten Spitzenklasse: Timo Werner ist auf dem Sprung dorthin, Gomez erlebt seinen dritten Frühling, Petersen besitzt nationale Klasse. Da sind andere Nationen teilweise deutlich besser aufgestellt.

Wer könnte noch rausfliegen:

Das grösste Fragezeichen steht natürlich hinter der Besetzung im Tor. Manuel Neuer kommt aus einer langwierigen Verletzung zurück und ist ohne jegliche Spielpraxis. Auf den Tag genau vor 581 Tagen hat Neuer sein letztes Länderspiel bestritten.

Selbst wenn der Weltmeister noch in den beiden Testspielen gegen Österreich und Saudi-Arabien ran dürfte, ist das schon sehr eng bemessen - zumal die Anforderungen eines Test- oder Freundschaftsspiels und die eines WM-Spiels nicht zu vergleichen sind.

Einer der vier Torleute wird gehen müssen und es kommt einer Grundsatzentscheidung von Löw gleich, wie er damit verfahren will: Nimmt er Neuer mit - ob als Nummer eins oder als Ersatz für Ter Stegen - dann wird es ziemlich sicher Kevin Trapp treffen, der in Paris kaum Spielpraxis gesammelt hat.

"Wir waren mit Manuel in ständigem Austausch. Wenn nichts Aussergewöhnliches passiert, soll er im Trainingslager voll belasten. Wir wollen uns auch selbst ein Bild von ihm machen. Wir müssen entscheiden, ob Neuer in der Lage ist, seine Topleistung abzurufen. Ich denke, es ist nicht möglich ohne Spielpraxis in eine WM zu gehen", sagte Löw und deutete damit schon an, dass im Fall Neuer alles möglich ist.

Im Angriff spitzt sich viel auf das Duell zwischen Gomez und Petersen zu. Gomez hat ganz sicher mehr Erfahrung und ist der bessere Konterspieler, von Petersen "verspreche ich mir aber einiges", so Löw. "Er kann mit der Aufgabe wachsen."

Zittern müssen wohl auch Niklas Süle, Julian Brandt und Rudy, sie erscheinen als die "kleinsten" Namen. Aber darauf wird Löw im Zweifel keine Rücksicht nehmen, wenn er schon andeutet: "Entscheidend ist, wer zu unseren Ideen am besten passt."

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