- Unser Autor ist für die WM nach Katar gereist.
- Im fünften Teil seines WM-Tagebuchs berichtet er über den Flitzer, der dem Fussball für wenige Augenblicke die Show stahl.
Da spielte der grosse alte
Kein Platz für Störenfriede: Das Flitzerabwehrsystem
Genau genommen trifft die Bezeichnung Flitzer auf ihn gar nicht zu, denn die Urform des Flitzens ist: Man macht es lediglich mit Schuhen und Strümpfen bekleidet. Doch wenn in einem Stadion sich heute jemand nackig machen würde, fiele das sofort auf, und Einsatzkräfte wären vorbereitet. Denn nichts schätzt ein Veranstalter weniger, als wenn jemand in sein schönes Event hineinplatzt. Deswegen haben die grossen Verbände seit 14 Jahren, beginnend mit der Europameisterschaft 2008 in der Schweiz und Österreich, ein Flitzerabwehrsystem aufgebaut.
Zu beobachten auch bei der WM in Katar: Im Lusail Stadium waren 100 Ordner in Volunteers-Kleidung, 25 pro Seite des Spielfeldes, die dem Geschehen auf dem Rasen den Rücken zuwenden mussten. Der Fussball war für sie nur ein Hörspiel. Ihre Aufmerksamkeit hatten sie auf die Zuschauerränge zu richten; ein Traumjob sieht anders aus. In der Bundesliga gibt es übrigens Vereine, die Prämien aussetzen (um die 50 Euro extra), wenn ein Ordner einen Flitzer stoppt.
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Die Kamera zeigte den Flitzer nicht
Höchste Achtsamkeit herrscht auch in der Regie. Bei der WM gibt es ein sogenanntes Weltbild, das alle angeschlossenen Sendeanstalten bekommen. Die Vorgabe ist: Da das Stören von Abläufen Nachahmer inspirieren könnte, soll es keine Bühne bekommen. Deswegen erfolgt der schnelle Schnitt.
Erst auf den Bildern der Fotografen, die ihre Freiheit der Berichterstattung nutzen, ist zu erkennen, was ein Flitzer vorhatte: einfach nur für ein paar Sekunden im Mittelpunkt stehen, einen Spieler umarmen, sich an den Torpfosten binden. Oder – gab es sogar mal bei Olympischen Spielen während des Turmspringens – eine Werbung für ein Online-Casino anbringen. Hauptspielfeld des Flitzers ist aber klar der Fussball, er bietet die grösste Bühne.
Über das Dach der Trainerbänke in das Wohnzimmer von Millionen
Zwischenzeitlich entwickelte sich aus dem Flitzen noch eine andere Strömung: die des charmanten Täuschens. Darin war der Engländer Carl Power der absolute Meister. Er verschaffte sich Zugang, indem er sich kleidete wie ein Akteur: So nahm er lange unbemerkt an einem Cricket-Länderspiel teil, stand bei einem Formel-1-Rennen kurz auf dem Siegespodest und – die Krönung – bei einem Champions-League-Spiel in München als zwölfter Mann auf dem vor Anpfiff aufgenommenen Mannschaftsfoto von Manchester United.
Zurück nach Doha: Der Flitzer ging klug vor. Kritische Kleidung kann man unter einer Jacke verstecken, eine Flagge auch. Den Weg aufs Spielfeld fand er über das Dach einer der beiden Trainerbänke. Er hatte die Lücke im Flitzerabwehrsystem gefunden. Genial!
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