Italien verpasst die erste Weltmeisterschaft seit 60 Jahren. Dem Rücktritt von Legende Gigi Buffon dürften noch einige weitere folgen, der Verband steht vor den Trümmern einer verfehlten Politik. Für den längst notwendigen Umbruch war das Debakel auf Sicht aber vielleicht sogar nötig.
Jetzt ist es also tatsächlich passiert: Italien, Fussballgrossmacht, vierfacher Champion, eine Institution des Weltfussballs, verpasst die Weltmeisterschaft 2018 in Russland. Das Giuseppe-Meazza im Mailänder Stadtteil San Siro ächzte und stöhnte in den letzten Momenten eines geradezu historischen Abends. Die Tifosi waren offenbar hin- und hergerissen zwischen dem einen Funken letzter Hoffnung und der heimlichen Gewissheit, dass nur ein spektakuläres Scheitern wirklich etwas ändern könnte.
Es läuft nämlich so einiges schief im italienischen Fussball und die Squadra Azzurra, einst die Speerspitze der Nation, ist spätestens jetzt zum Symbol verfehlter Verbandspolitik und eines maroden Systems in der Serie A geworden.
Die "Apokalypse" ist da
60 Jahre ist es her, dass Italien zuletzt bei einem Weltturnier nicht dabei war. 1958 machten Italiens Profis zu Hause Urlaub, während in Schweden der Stern eines 17-jährigen Brasilianers namens Pelé aufging. Jetzt haben die besten Spieler des Landes im kommenden Sommer erneut jede Menge Zeit.
Immerhin befindet sich Italien damit in guter Gesellschaft: Mit den USA, Chile und Kamerun haben auch der amtierende Nordamerikameister, der Südamerikameister und der Afrikameister das Endturnier verpasst. Dazu kommt noch der Dauergast und WM-Dritte Niederlande. Dieser schwache Trost wird die Debatten im Land des viermaligen Weltmeisters aber nicht stoppen.
Die "Apokalypse", die Teile der wenig zimperlichen italienischen Medien schon vor dem 0:0 gegen Schweden angekündigt hatte, bahnte sich schon seit Jahren an. Vor sieben Jahren in Südafrika stürzte der amtierende Weltmeister in der Gruppenphase gnadenlos ab, landete sogar noch hinter Neuseeland auf dem letzten Platz. In Brasilien schied die Mannschaft ebenfalls bereits nach der Vorrunde aus.
Cannavaros Mahnen verhallt ungehört
"Wir müssen unsere Strategie überdenken und umstellen. Wir müssen gleich mehrere Dinge ändern - andernfalls gewinnen wir den WM-Titel in den kommenden 25 Jahren nicht mehr", sagte Fabio Cannavaro nach dem Debakel in Südafrika. Erhört wurden die Worte des Kapitäns aber nicht.
Denn zu diesem Strategiewechsel hätte nach Dafürhalten einiger Experten der längst überfällige Umbruch im Kader gehört.
Der Abwehrverbund mit den 2006er-Weltmeistern Buffon (39) und Andrea Barzagli (36), sowie Giorgio Chiellini (33) und Leonardo Bonucci (30) ist zusammen 138 Jahre alt.
Das Durchschnittsalter des Teams in den Playoffs gegen biedere Schweden lag bei über 30 Jahren. Die Senatoren in der Abwehr hätten zu lange den Fortschritt und die Jugendlichkeit aus der Mannschaft gebissen, befinden Experten. Selbst die ansonsten sakrosankte Legende Buffon bekam in den letzten Monaten dabei einiges an Kritik zu hören.
Das Gerücht, wonach die Veteranen nach einem blamablen Remis gegen Mazedonien die Kabinenpredigt gehalten und Trainer Gian Piero Ventura dabei vor die Tür gedrängt hätten, hält sich hartnäckig.
Damit wurde die ohnehin schon schwer beschädigte Autorität Venturas nochmal vehement untergraben. Der Mann aus der Provinz war vor 15 Monaten auf den weltmännischen Antonio Conte gefolgt. Ventura hat in 35 Jahren 18 verschiedene Klubs trainiert. Seine letzte Station in der Serie A war in Turin. Allerdings bei Torino, und nicht beim grossen Juventus.
Probleme im Verband und in der Liga
Internationale Erfahrung hatte Ventura kaum vorzuweisen und dass ein damals 68-Jähriger auf den damals 46-jährigen Conte folgte, passte ins Bild der altbackenen Strategie der Federazione Italiana Giuoco Calcio unter dem Vorsitz von Präsident Carlo Tavecchio, einem 74-jährigen ehemaligen Politiker und Funktionär, der wegen rassistischer Beleidigungen von der UEFA für sechs Monate gesperrt und in fünf Gerichtsverfahren verurteilt wurde, unter anderem wegen Steuerhinterziehung und Urkundenfälschung.
Sportlich erholt sich die Serie A in diesen Monaten ein wenig, strukturell hat die Liga aber immer noch einige massive Probleme. Die Milliarden aus den Pay-TV-Verträgen sprudeln auch nach dem Rückzug von Silvio Berlusconi munter weiter, die Spieler werden überschüttet mit Geld - und die Liga langsam aufgefressen von ausländischen Oligarchen. Beide Mailänder Klubs, einst jahrzehntelang im Familienbesitz Berlusconis beziehungsweise von Massimo Moratti, sind an Chinesen veräussert.
Das hat zwar wieder ein paar Stars und Sternchen in die Serie A gespült, verstärkt aber das Problem der leeren Stadien noch weiter.
Viele der ehemaligen Tempel sind marode, der Verband hat seit gefühlten Ewigkeiten mit einem Rassismus- und einem Gewaltproblem in den Stadien zu kämpfen. Die Tifosi bleiben den Spielstätten fern, lediglich Juventus bekommt sein topmodernes Stadion ausverkauft.
Mit den eigenen Mitteln geschlagen
Zwölf der 14 beim "Jüngsten Gericht in San Siro" (Zeitung La Repubblica) eingesetzten Spieler verdienen ihr Geld in der Serie A und es gibt nicht wenige die behaupten, die Spieler würden in der heimischen Liga im eigenen Saft schmoren. Dass Trainer Ventura gegen die Schweden dann den vermeintlichen Hoffnungsträger Lorenzo Isigne gar nicht berücksichtigte, war der krönende Abschluss einer völlig verkorksten Amtszeit des bald ehemaligen Nationaltrainers. Dass Ventura auch nur ein weiteres Spiel bestreiten darf, ist nahezu ausgeschlossen.
In 180 Minuten gegen die allenfalls zweitklassigen Schweden hatte Italien keine Ideen, keinen Plan und wurde am Ende - ein Treppenwitz der Geschichte - mit eben jenen Mitteln geschlagen, mit denen italienische Nationalmannschaften ganze Generationen von Gegnern in die Verzweiflung trieb: rigorosem Catenaccio. Italien kostete von seiner eigenen Medizin und ging daran ein.
Ventura wollte Mitte der zweiten Halbzeit Daniele de Rossi einwechseln, einen defensiven Mittelfeldspieler. Der zeigte verärgert auf Insigne, einen wuseligen Angreifer. "Was zur Hölle willst du mich einwechseln? Wir müssen nicht auf Remis spielen, wir müssen gewinnen!" De Rossi blieb auf der Bank sitzen, Insigne war für Ventura keine Option. Selten wurde die komplette Hilflosigkeit eines Trainers offensichtlicher.
Der kurzzeitige Jugendwahn Venturas, die spielerische Weiterentwicklung unter Conte: Alles vergessen und vorbei. Jetzt ist die Stunde Null. Und wahrscheinlich ist es besser, dass es kein "Weiter so" mehr geben wird. "Wir werden versuchen, uns davon zu erholen. So wie wir das immer gemacht haben", heulte Buffon am Montagabend noch ins Mikrofon und schlich von dannen. Immerhin konnte man die finale Blamage nicht am scheidenden Kapitän festmachen: Buffon hielt seinen Kasten ein letztes Mal sauber.
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