Der Protest ist gross und laut: Die Weltmeisterschaft 2034 findet mit deutscher Zustimmung in einem Unrechtsstaat statt. Dabei hat Bernd Neuendorf richtig gehandelt
Menschenrechtsexperten und Schöngeister, Dauernörgler und Weltverbesserer brachten sich frühzeitig in Stellung: Mit lautstarken und öffentlichkeitswirksamen Protesten forderten sie den Deutschen Fussball-Bund (DFB) zum Widerstand gegen Saudi-Arabien auf.
Es war nicht nur die üblichen Verdächtigen in den Stadien, die Banner mit Aufschriften zeigten. An der Verbandszentrale in Frankfurt/Main entrollten sogar Vertreter der braven Arbeiterwohlfahrt ihre Plakate und polterten gegen die WM 2034: "Kein Fussballfest im Folterstaat".
Wir leben nicht in einer idealen Welt
Und sie haben ja auch recht: Die Fussball-Weltmeisterschaft 2034 darf und sollte nicht in einem Land stattfinden, das die Würde des Menschen regelmässig mit Füssen tritt. In einer idealen Welt passen die Ideale des Fussballs nicht mit denen im Staat Saudi-Arabien zusammen.
Dummerweise leben wir nicht in einer idealen Welt. Fifa-Präsident Gianni Infantino hat mit allen Mitteln zuerst die WM 2022 in Katar durchgedrückt. Jetzt war der grosse Bruder der Begünstigte. Die zuständigen Fifa-Delegierten konnten bei der Abstimmung nur pro Saudi nicken.
Hätte DFB-Präsident Bernd Neuendorf trotzdem vernehmbar "Nein!" rufen und die Opposition gegen Saudi-Arabien bilden sollen? Vielleicht. Nur hat der ehemalige SPD-Politiker schnell eingesehen, dass sein stiller Protest nichts brächte, und stimmte mit "Ja".
Neuendorf handelt richtig
Man mag das stillos finden, wenn man das eigene Grundgesetz kennt, und doch handelte Neuendorf genau richtig. Er wusste: Er kann bei einem Aufstand nichts gewinnen. Schlimmer noch: Womöglich hätte er seinen Verband zum internationalen Gespött gemacht.
Denn zur Wahrheit gehört auch: Ausserhalb von Deutschland wird das Getöse um Saudi-Arabien weniger dramatisch bewertet als hierzulande. Top-Stars wechseln zu den Scheichs in eine drittklassige Liga, weil ihnen die Geldscheine hinten und vorne reingesteckt werden.
Und jetzt soll man so tun, als gäbe es Saudi-Arabien nicht auf der Fussballweltkarte? Bei der WM in Katar waren die Mannschaften erfolgreicher, die sich auf Fussball konzentriert haben und weniger auf Regenbogen. Das macht einen, den Autoren eingeschlossen, verrückt.
Gier, Geld, Geltung
Immerhin hat Saudi-Arabien anders als Katar an mehreren WM-Turnieren teilgenommen. Dass die gesellschaftlichen Veränderungen Richtung Gleichberechtigung eilen, ist ein Märchen. Bei der WM-Vergabe an Saudi-Arabien ging es allein um Gier, Geld, Geltung.
Neuendorf verhielt sich in dieser vertrackten Lage rein pragmatisch. Wäre er so opportunistisch, wie ihm das deutsche Fans unterstellen, hätte er gegen Saudi-Arabien gestimmt. Das hätte ihm daheim schnellen Applaus eingebracht. Hat er aber nicht.
Zehn Jahre lang werden wir uns jetzt Belehrungen anhören müssen, warum die Abstimmung falsch war und ein Protestvotum die einzige Alternative. Dazu gehören weiter Boykott-Aufrufe und bösartige Banner in den Bundesliga-Stadien. Nur bringen wird das alles nichts.
Wahrscheinlich müssen wir, ob wir das wollen oder nicht, ein bisschen Neuendorf sein: Die Dinge zwar beim Namen nennen (das hat er!), aber die Grautöne im Schwarzweiss finden (das versuchte er!) und bei jeder Gelegenheit Gianni Infantino beschimpfen (das mache ich!).
Über den Autor
- Pit Gottschalk ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chefredakteur von SPORT1. Seinen kostenlosen Fussball-Newsletter Fever Pit'ch erhalten Sie hier.
- Fever Pit'ch ist der tägliche Fussball-Newsletter von Pit Gottschalk. Jeden Morgen um 6:10 Uhr bekommen Abonnenten den Kommentar zum Fussballthema des Tages und die Links zu den besten Fussballstorys in den deutschen Medien.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.