• Die deutschen Handballer haben bei der WM das Halbfinale verpasst, aber trotzdem viel gewonnen.
  • Zur Weltspitze hat es noch nicht gereicht, doch das DHB-Team ist auf einem guten Weg.
  • Wir nennen Dinge, die Mut machen für die Zukunft.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Reiners sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Alfred Gislason starrte lange auf das Parkett. Der Blick war leer, voller Enttäuschung, ein bisschen Fassungslosigkeit war auch dabei. Fast unbemerkt schüttelte er immer wieder den Kopf. Man sah dem Trainer der deutschen Handballer an, wie sehr ihn das Viertelfinal-Aus gegen Frankreich schmerzte. Das 28:35 war deutlich, allerdings auch um ein paar Treffer zu hoch. Was vor allem weh tat: Es war mehr drin. So bleibt nach dem geplatzten Medaillentraum bei der WM die Erkenntnis, dass es noch nicht ganz reicht für den ganz grossen Wurf.

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Keine Frage: Das Spiel gegen Frankreich hat gezeigt, dass die deutsche Mannschaft bei einem grossen Turnier auf dem Level mithalten, sogar teilweise auch das Spiel bestimmen kann, aber eben noch nicht über 60 Minuten. "Dafür haben wir nicht die Breite im Kader", analysierte Ex-Weltmeister Markus Baur im ZDF. Während die Franzosen gleichwertig wechseln konnten, sind auf dem Niveau auch kleine Qualitätsunterschiede in der Breite mitentscheidend. Im Angriff ging dem Team die Luft und Kraft aus.

Auch die Probleme in der Abwehr waren nicht zu übersehen. Die fehlenden Alternativen in der Abwehr seien "ein grosses Manko. Ich hoffe, dass wir das lösen können in den nächsten Monaten. Das ist etwa der Unterschied zwischen uns und den Franzosen", sagte Gislason.

Zurück auf der Handball-Weltkarte

Wichtig ist aber das Positive: Deutschland ist zurück auf der Handball-Weltkarte. "Wir haben den nächsten Schritt gemacht, wir haben ein Erfolgserlebnis gesammelt", sagte Kapitän Johannes Golla. "Es ist aber noch ein weiter Weg zur Weltspitze, wir müssen als Mannschaft und individuell wachsen." Er brachte die Lage auf den Punkt: An guten Tagen, so der Kreisläufer, "können wir begeisternden Handball spielen. Wenn wir aber um die Titel mitspielen wollen, müssen wir uns stabilisieren und Spiele über 60 Minuten konstant gestalten."

Auch der mal wieder überragende Torhüter Andreas Wolff sieht "noch einen kleinen Weg zu gehen, um in die Weltspitze zu gelangen". Niederlagen wie gegen Frankreich "können auch Lektionen sein. Wir müssen noch etwas lernen, am besten schon mit Siegen in den nächsten zwei Spielen, um das Selbstverständnis zu festigen und ruhiger und souveräner zu werden."

Es fehlt etwas in der Breite

Und auch Gislason befand, dass man bei dem Turnier ein grosses Stück weitergekommen sei, aber auch für ihn war "nicht zu übersehen, dass uns etwas in der Breite fehlt." Trotzdem betont er: "Die Mannschaft hat sich sehr gut entwickelt und hat hier sehr viel gelernt." Und die WM ist ja noch nicht vorbei, die Platzierungsspiele um die Ränge fünf bis acht stehen noch an, angefangen am Freitag gegen Ägypten. Und die sind erst der Anfang, denn es gibt Dinge, die für die kurz- und mittelfristige Zukunft Mut machen. Wir nennen sie.

Qualität im Kader

In der Breite mag etwas fehlen, doch die Basis ist immens stark. Bob Hanning zum Beispiel sieht eine "goldene" Zukunft. "Ich bin mir absolut sicher, dass wir mit dem vorhandenen Spielermaterial schon sehr bald wieder dauerhaft eine Hauptrolle im Welthandball einnehmen werden", schrieb der langjährige Verbandsvize und Manager des Bundesliga-Tabellenführers Füchse Berlin in seiner Sportbild-Kolumne.

Die WM mache ihm "grosse Hoffnung". Aktuelle und vor allem junge Leistungsträger wie Juri Knorr (22), Johannes Golla (25), Julian Köster (22) oder Lukas Mertens (26) stünden "noch längst nicht am Ende ihrer Entwicklung". Zudem habe man mit dem aktuell pausierenden Hendrik Pekeler "noch einen Trumpf in der Hinterhand", so Hanning. Er hofft auf eine "unvergessliche Heim-EM im kommenden Jahr mit einem Zuschauer-Weltrekord und einer echten Titelchance".

Die Handball- und Sportfans in Deutschland hätten wahrgenommen, dass etwas wachse, sagte DHB-Sportvorstand Axel Kromer. Die Mannschaft "ist nicht am Limit, aber wir haben viele Grundlagen gelegt und sehr gute Leistungen gezeigt. Wir haben nächstes Jahr eine Heim-EM, da wollen wir den nächsten Schritt gehen."

Teamgeist

Die Mannschaft ist bei der WM zusammengewachsen, und sie hat bewiesen, was mit einer störungsfreien und konzentrierten Vorbereitung herauszuholen ist. Das Team flog geradezu zu fünf Siegen aus den ersten fünf Spielen, überzeugte mit einem speziellen Spirit. Sie zeigte sich nahbar, authentisch, ehrlich und leidenschaftlich und eroberte so die Herzen der Fans. Dass es zwischenmenschlich passt, ist eine wichtige Grundlage für weitere Erfolge.

Alfred Gislason

Eine Schlüsselfigur beim aktuellen Aufschwung, der 63-Jährige hat einen riesigen Erfahrungsschatz, er prägte von 2008 bis 2019 beim THW Kiel eine Erfolgsära. Auch dank ihm stimmt der Weg. Der Isländer besticht mit einer besonderen Mischung, ist akribisch, emotional und fordernd, lässt aber auch die lange Leine, wenn es nötig ist, strahlt Ruhe aus.

"Alfred ist sehr emotional, schafft es aber trotzdem sehr gut, den Bogen zu spannen zwischen vor dem Spiel und nach dem Spiel", sagte Wolff: "Trotz seiner Anspannung schafft er es, uns vor dem Spiel eine gewisse Ruhe zu geben, weil er eben unglaublich viel Erfahrung, unglaublich viel Souveränität hat." Und Co-Trainer Erik Wudtke erklärt: "Er spiegelt Souveränität und Selbstbewusstsein wider, was auch die Mannschaft dann wieder aufnimmt."

Zuschauer-Potenzial

Ja, es war schon immer so, dass der Zuspruch im Fernsehen parallel zum Erfolg wuchs, dass die Quoten vor allem dann steigen, wenn die deutsche Mannschaft auf dem Parkett begeistert und überzeugt. 7,49 Millionen Fans waren es beim Viertelfinale gegen Frankreich im ZDF, das Zweite erreichte einen Marktanteil von starken 26,5 Prozent.

Der Schnitt bei den sieben Spielen liegt bei über fünf Millionen. Die Zahlen bei den Öffentlich-Rechtlichen unterstreichen das Potenzial und beweisen, dass die Handballer immer noch einen nicht unerheblichen Teil der Sportfans in Deutschland erreichen – wenn sie erfolgreich sind.

Eine Mannschaft, die begeistert

"Das ist eine Mannschaft, die begeistert, ein sympathischer Haufen. Diese Mannschaft könnte einen Handball-Boom auslösen", sagte ZDF-Sportchef Yorck Polus der dpa. Auch die zuvor stark in der Kritik stehende Fussball-WM in Katar spielte eine grosse Rolle, der deutsche Handball konnte sich mit den nahbaren DHB-Jungs als Gegenentwurf positionieren.

"Offensichtlich herrscht in Deutschland eine grosse Euphorie und Begeisterung für die Nationalmannschaft. Das ist für uns natürlich immens wichtig mit Blick auf die Entwicklung des Handballs", sagte Kromer: "Die Einschaltquoten zeigen, dass ein riesiges Interesse an uns besteht. Das ist die Grundlage für eine weitere Entwicklung", so Kromer weiter.

Die grosse Bühne

Die starke Ausgangssituation wird kombiniert mit der grossen Bühne für den deutschen Handball in diesem Jahrzehnt. Im Sommer steigt in Deutschland und Griechenland die U21-WM, Anfang 2024 die Heim-EM der Männer, 2025 die Frauen-WM in Deutschland und den Niederlanden und 2027 dann die Männer-WM, ebenfalls in Deutschland.

Sportlicher Erfolg führt zu mehr Fans und Mitgliedern

Jede Menge Möglichkeiten, die zeigen sollen, "wie gut und vielfältig wir sportlich sind, aber das soll auch ein grosser Werbeblock für unseren Sport sein", sagte DHB-Präsident Andreas Michelmann der FAZ: "Dieses Jahrzehnt des Handballs ist mit diesen vier grossen Events auch ein Jahrzehnt, das in die Zukunft weist. Der Schwerpunkt in den Dreissigerjahren liegt dann weniger auf den Events, sondern auf der Entwicklung des Leistungssports." Die einfache Grundrechnung: Der sportliche Erfolg führt zu mehr Fans und Mitgliedern. Mit der aktuellen Mannschaft kann diese Rechnung aufgehen.

Essenziell bei dieser Rechnung: Die Verantwortlichen müssen dafür sorgen, dass die Chancen durch die sportlichen Erfolge dann auch klug genutzt werden. Laut Michelsen habe der Verband aus der Vergangenheit gelernt. Zum Beispiel, dass der Hype um den WM-Titel 2007 wenig nachhaltig war. "Wir haben 2019 schon aus 2007 gelernt", so Michelsen.

Verband hat gelernt

Den Ertrag der WM 2019 habe man im Wesentlichen für die Strukturreform des DHB ausgegeben, so der Verbandschef. "In die Regionen haben wir je eine halbe Million Euro für Mitgliederentwicklung investiert", betonte Michelsen: "Die WM 2019 hat gewirkt, das hat man an den Zahlen gesehen. Aber Corona hatte einen gegenteiligen Effekt. Jetzt, wo die Pandemie vorbei zu sein scheint, müssen wir sehen, dass wir die Kinder wieder in die Hallen kriegen."

Dafür sorgen vor allem Knorr, Wolff und Co. Auch wenn Frankreich noch eine Nummer zu gross war.

Verwendete Quellen:

  • sueddeutsche.de: Nahbar und authentisch: DHB-Männer begeistern bei WM
  • faz.net: "Wir wollen Typen mit Profil"
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